(Sonntag, 11. Oktober 2023)

[Michel Friedman: Schlaraffenland abgebrannt?]

Buchmesse Frankfurt


Freiheit geht nicht ohne aller Verantwortung

 

Die Menschen suchen wieder nach Grenzen, Mauern – und Sündenböcke, die sie in „den Juden“, „den Politikern“ und „den Medien“ zu finden glauben. Es sind immer „die anderen“, „die, die die Macht haben“, „die Elite“, die haben nicht richtig „auf mich aufgepasst“. Doch „mündige Menschen“ können erkennen, dass sie es selbst sind, die die Entscheidungen und Standpunkte für ihr Leben definieren, erklärt Michel Friedman. Es bricht eine schwierige Zeit an – auch in Deutschland, wo die jüdische Bevölkerung mal wieder den polizeilichen Rat bekommt, die Kippa und den Davidstern nicht öffentlich zu zeigen, „um keine Konflikte zu provozieren“. Wieso darf er seine Symbole nicht zeigen, wo andere ihre öffentlich zur Schau stellen können? Da sieht er die Zeit gekommen, dass für die Demokratie, für Toleranz und Meinungsfreiheit „für alle“ wieder vehement Haltung gezeigt werden muss. Niemand mit einer deutschen Staatsbürgerschaft sollte in Deutschland aufgrund eines Glaubens Angst haben müssen. Wo bleibt da die Toleranz? 

 

Es fehlen Stimmen, die deutlich sagen „es reicht und es muss anders werden“

 

Michel Friedman wünscht sich ein kollektives Aufstehen der Bevölkerung für Teilhabe, Akzeptanz und Respekt – „für alle“. Auch solche Aussagen wie von Friedrich Merz über „die kleinen Paschas“ empfindet er „nicht nur als eine Provokation, sondern als eine hochgefährliche Aussage“. Denn worüber die einen lachen, das bereitet den anderen Schmerzen – und schürt Hass. Aber auch bei Frauenfeindlichkeit, Antisemitismus, Rassismus und Homosexualität-Feindlichkeit: „Es ist der Alltag, in dem es beginnt“ und jedes abfällige Wort kann eine nachhaltige Ohrfeige sein. Wörter in einem Dialog mit unterschiedlichen Menschen sollten wieder mit mehr Bedacht gewählt werden. Nicht so wie die hämische Aussage von Richard David Precht zu den orthodoxen Juden. Michel Friedman glaubt zwar nicht, dass dieser ein Antisemit sei, – aber er glaubt, dass immer noch viele Vorurteile in den Menschen gegenüber anderen Lebensweisen schlummern. Wichtig sei, dass diese reflektiert und verarbeitet werden: Damit überhaupt ein Verständnis füreinander aufgebaut werden kann.

 


Buchmesse 2023 mit Karin Nink, Michel Friedman und Lars Klingbeil

 

Im Moment befinden sich viele Gesellschaften in kritischen Phasen: So viele Probleme kamen in den letzten Jahren dazu, die sich aufgestaut haben – und sich nun entladen. Der 45-jährige Lars Klingbeil ist wegen des Kampfes gegen rechts in die Politik gegangen. „Wir müssen heute ganz viel besser machen“. Wenn die, die über andere schlechte reden, laut sind, dann dürfen die demokratischen Positionen nicht leise sein. Alle Menschen sind Teil der Gesellschaft: Es ist eine homogene Masse. „Wir brauchen mehr Stammtisch“, mehr Dialog und mehr Auseinandersetzung miteinander, damit die Hürden und Barrieren abgebaut werden. Und nicht, dass sich alle nur noch in der eigenen kleinen Blase bewegen und was einem nicht passt, wird „geblockt“, „gehatet“ und/oder aus der eigenen Lebensrealität ausgeblendet. Die Probleme hören damit nicht auf zu existieren. Wenn eine Diskriminierung, egal in welcher Form auch immer stattfindet, muss sich dagegengestellt werden – auch wenn das anstrengend ist.

 

Die „schlechteste Demokratie ist besser, als die beste Diktatur“

 

Wenn das deutsche Grundgesetz klar sagt, die Würde des Menschen ist unantastbar, – warum gibt es dann in Deutschland keine erkennbaren Konsequenzen, wenn schwarze Fußballspielende mit Affengeräuschen begrüßt werden? „Lassen wir die Menschenwürde (wieder) wachsen“. Es sollte keine politische Partei geben, die über Teile der Bevölkerung spricht, als wären diese außerhalb der eigentlichen Gesellschaft, – denn das ist keine funktionierende Übertragung, um alle zusammenzuhalten. Die Gesamtheit einer Haltung sollte sich aus der Bevölkerung heraus bilden, – wünschenswert wäre hier eine, die nicht geprägt ist von Gewalt und Hass, sondern von emphatischen menschlichen Reaktionen und Taktgefühl. Dass sich das dahin entwickeln kann, dem steht Michel Friedman mit einem skeptischen Optimismus gegenüber. Einem „sehr, sehr, sehr skeptischen Optimismus“: Denn aktuell müssen alle „sehr auf die Demokratie aufpassen.“

 


© Tina Waldeck 2023