[ANIMA – Die Kleider meines Vaters]

Uli Decker | Deutschland 2022


Warum wird die Grenze zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit so streng bewacht?

Der Vater der Regisseurin wollte nie im Mittelpunkt stehen, so stellt sie ihn jetzt auch nicht heraus: sondern in Verbindung mit sich selbst. Schüler:innen seiner Schule spannten eines Tages einen dünnen Draht an dem Schulweg entlang und der Hauptschullehrer stürzte mit dem Fahrrad unverhofft darüber. Er fiel ins Koma und bevor er starb, sprach die Mutter sein Geheimnis nach langen Jahren aus: Er war ein Transvestit. Und am schlimmsten fand Uli den Zusatz: „Ihr dürft mit niemandem darüber reden“, – so wie er es nie getan hat.


Filmbild aus ANIMA – Die Kleider meines Vaters ©Uli Decker | Deutschland 2022
Filmbild aus ANIMA – Die Kleider meines Vaters ©Uli Decker | Deutschland 2022

Sie beschließt eine sensible Spurensuche und nimmt ihre Kamera zur Hand. In seinen Sachen findet sie Schachteln mit Schminkutensilien sowie schwarze Tagebücher, sorgfältig mit Datum beschriftet. Ein paar Zeilen klingen, als hätte er sie für Uli geschrieben. „Wir müssen die Väter und Mütter auch verraten, damit wir mit unserer Vergangenheit in Frieden leben können.“ Im konservativen Bayern ertönt Blasmusik. Während sie ihre Schwester, die Mutter sowie Freunde des Vaters befragt, positioniert sich nicht nur das Kreuz im Hintergrund kritisch. Warum müssen die anderen alles wissen? Es war wie eine innere Belagerung, schreibt er auf. Als hätte er sich sein ganzes Leben lang vor Feinden abgeschirmt.

Wie war er? Das Wort „normal“ fällt mehrfach

Nur zurückhaltend und sehr introvertiert, erzählen alte Schulfreunde. Ein durchschnittlicher Junge, der feuerrot bei Mädchen wird und verlegen verstummt. In einer katholischen Studentengruppe lernt er seine zukünftige Frau kennen. Er war schon etwas anders, formuliert sie es etwas vorsichtiger: religiös, musikalisch und einfühlsam. Nach der Hochzeit bekam er eine depressive Phase: Bis er ihr eines Tages sein Geheimnis beichtete. Sie verlässt ihn nicht und er ist erleichtert. Die beiden wünschten sich Töchter – „Das würde alles einfacher machen.“ 

Doch dann kam Uli: Ein wildes und störrisches Kind, das gegen alles rebellierte. Ihre lebhafte Fantasiewelt manifestiert sich in Animationen von Cowboys, Indianern und Rittern. Sie will ein Junge sein, tolle Abenteuer erleben und einen Bart haben. Sie lernt aus Magazinen, was Mädchen tun sollen, damit Jungs sie toll finden – und findet aber ihre Lehrerin toll. Schließlich entdeckt sie das Theater für sich: Dort kann sie ihrer Vorliebe für Bärte ausleben, sich verkleiden und uneingeschränkt ausleben. Mit ihrem Vater schaut sie eines Abends eine Diskussionsrunde mit Romy Haag. Er wird danach in sein Tagebuch schreiben: „Du brauchst ein ganzes Leben, um die Kindheit zu verstehen.“


Filmbild aus ANIMA – Die Kleider meines Vaters ©Uli Decker | Deutschland 2022
Filmbild aus ANIMA – Die Kleider meines Vaters ©Uli Decker | Deutschland 2022

Fazit

Die Regisseurin stellt ihre persönliche Reise nach (innerer) Freiheit in Verbindung mit den Gefühlen ihres Vaters, die sie nur aus seinen Tagebüchern kennt. Sich mit einer fremdartigen Neigung in einer konservativen Umgebung verloren zu fühlen, wirft viele Gemeinsamkeiten von Vater und Tochter in einen Raum, der nicht mehr mit realen Berührungspunkten gefüllt werden kann. Ein Memorial für jene, die sich in ihren eigenen Normalzuständen ein ganzes Leben lang ausgrenzen mussten, aber ebenso ein Aufzeigen von Generationen, die ein Verständnis für die Bedürfnisse des inneren Ichs empfinden dürfen. Das ist immer noch kein Selbstverständnis in allen Gesellschaften.



«ANIMA – Die Kleider meines Vaters» lief im Dokumentarfilm Wettbewerb auf dem Filmfestival Max Ophüls Preis 2022 und konnte hier sowohl den Preis als Bester Dokumentarfilm 2022 als auch den Publikumspreis im Bereich Dokumentarfilm für sich gewinnen. 


© Tina Waldeck 2022