[ Radiograph of a Family ]
Firouzeh Khosrovani | Norwegen, Iran, Schweiz 2020
Metaphern der Entfremdung
Verhangene Möbel – hinter einem weißen Schleier verborgen. Ihre Mutter heiratete die Fotografie ihres Vaters, kommentiert die Regisseurin Firouzeh Khosrovani mit ironischer Stimme. Er traf Tayi, als er aus der Schweiz in den Iran kam. Sie, so schreibt er seinen Eltern, macht seinen Ausflug erst perfekt: jung, wunderschön und Teil einer respektablen religiösen Familie. So hält er um sie an, reist dann aber zurück, da ein Fehlen bei seinem Medizin-Studium nicht entschuldigt wird. Höflich fragte er ihre Familie, ob sie die Hochzeit auch ohne ihn abhalten können.
Als er sie zu sich in die Schweiz holt, gibt es von nun an zwei Tayis: Eine Frau, die sich auf ihr verheiratetes Leben freut und neugierig auf alles Neue ist, und eine Tayi, die Angst vor dem nicht muslimischen Ort hat und sich zurück zu ihrer vertrauten Umgebung im Iran sehnt. Hossein ist nicht an die Scharia Gesetze gebunden und der weltgewandte Mann möchte die schüchterne Frau in ein mondänes Leben führen. Super-8-Aufnahmen von Tanzenden und Trinkenden in einem Café. Frauen mit tief ausgeschnittenem Dekolleté. Geigen quietschen französische Chansons. Sie stoßen mit einem Glas an, aber sie trinkt nicht daraus. In seiner kleinen Studenten-Wohnung sucht sie ihren Qibla-Kompass: In welche Richtung muss sie bei ihm beten? Rauschen. Unscharfes Bild. Am nächsten Morgen: Kaffee und Croissants. Kein Morgen-Gebet. Kein Tee. Ein Leben mit einem Mann, der nicht religiös ist. Er überredet sie das Kopftuch abzulegen. Den ganzen Tag über ist er an der Universität in der Radiologie, während sie alleine ist. In seinen Sachen findet sie viele Fotoalben und schaut verwundert auf ein ganz anderes Iran: Alles sieht auf seinen Bildern so europäisch aus. Selbst die Vergangenheit im gleichen Land scheint die beiden nur noch mehr voneinander zu entfernen.
Als er gerade seine Doktorarbeit schreibt, wird Tayi schwanger. Schnell hat er große Pläne: Sein Kind soll klassischen Tanz in Paris und klassische Musik in Wien kennenlernen und später studieren. Doch seine Frau möchte ihr Kind traditionell im Iran zur Welt bringen: So gibt er ihr zuliebe schließlich nach. Als sie in die Heimat zurückkehren, findet die junge Frau die vertraute Umgebung jedoch anders als erwartet vor: Löst sich auch im Iran die Religion immer mehr auf? Während ihrer verzweifelten Suche nach einem Halt entdeckt sie Ali Shariati, einen Religionssoziologen, der in der Sorbonne studiert hat. Ein Mann, der die Moderne mit der Religion versöhnen will und bald unzählige Anhänger hat. Irgendwann ist sie so besessen von ihm, dass selbst die kleine Tochter Angst bekommt, Mutter würden Vater durch ihn ersetzen. Sie trägt nun wieder Kopftuch und betet regelmäßig. Während Hossein Symphonien wie Freude schöner Götterfunken für Firouzeh pfeift, beginnt ihre Mutter in einer religiösen Schule zu unterrichten und schwärmt davon, wie schnell die Mädchen dort lernen. Sie werden gut vorbereitet sein für den Dschihad. Selbst alte Fotografien lässt sie aus dem Fotoalbum verschwinden: Alle Bilder, die sie ohne Kopftuch zeigen, zerreißt die gläubige Muslimin, um die sündige Vergangenheit zu vergessen. Doch ihre Tochter nimmt die Bruchstücke an sich und malt daraus die zerrissenen Fragmente ihrer Mutter. Sie hat viele Albträume in dieser Zeit und auch ihr Vater arbeitet bis tief in die Nacht, um sich abzulenken, – während die Revolution von draußen immer tiefer in das Zuhause der Familie eindringt.
Fazit
Immer wieder blendet der Film im weiteren Verlauf einen inszenierten Raum im Haus der Familie ein. Dieser wird sich mit den wandelnden Umständen zwischen den Ehepartnern stetig umformen und anpassen. Die abweichenden Prägungen, die unterschiedlichen Dominanzen und die kleine Tochter, die sich zwischen diesen Welten bewegt... Im IDFA Interview erklärt die Regisseurin, das ihre Filme oft weibliche Erfahrungen im modernen Iran reflektieren: In »Radiograph of a Family« ist es die autobiografische Zweiteilung ihrer Familie mit einer sehr religiösen Mutter, einem weltgewandten Vater und die Zerrissenheit zwischen diesen beiden Lebensrealitäten als Tochter. Mit einer Fülle von Archivmaterial und fiktiven Dialogen zwischen den Eltern erschafft sie eine Chronik vor dem politischen Hintergrund der islamischen Revolution 1979. Dabei ist es eine gänzlich neue Erfahrung für sie gewesen, einen Film an der Schnittstelle zwischen Inszenierung und Dokumentation zu entwickeln: Immer wieder lösen die langsamen Kamerafahrten im Inneren des Hauses das Archivmaterial ab und zeigen so die veränderten emotionalen Zustände, – und die Regisseurin macht mit dieser Herangehensweise den Film zu einem subtilen Horror-Erlebnis in eleganter und einfühlsamer Filmsprache.
»Radiograph of a Family« lief im Online-Programm des International Documentary Filmfestival Amsterdam 2020 und Firouzeh Khosrovani konnte mit ihrem vierten Film den Hauptpreis im IDFA Wettbewerb für Dokumentarfilme in Spielfilmlänge sowie den IDFA Wettbewerbspreis für die kreative Nutzung des Archivs gewinnen.
© Tina Waldeck 2020