[ Antigone ]
Sophie Deraspe | Brasilien 2019
Verloren – zwischen Schuld und Unschuld – verlieren
Ein junges Mädchen in der Frontalen. Sie darf einen Anwalt oder ein Elternteil anrufen. Ihre Eltern sind beide tot, sagt sie und schaut offen in die Kamera.
Rückblick. Eine Gruppe Jugendlicher sitzt an einem Tisch. Oma Menoikens Hippomene möchte, dass der älteste Sohn das Essen segnet. Sie fassen sich an den Händen. Möge dieses Jahr Segen und Wohlstand bringen. Mama, Papa – es wird zu einem Foto geschaut – sowie die Vorfahren sollen über sie wachen und die beschützen. Warme Töne wie rot dominieren als Farben im Raum, sowohl in der Küche als auch in der Kleidung. Fröhlich, leidenschaftlich und hoffnungsvoll. Alle Geschwister werden mit ihren unterschiedlichen Charakteren gleich zu Beginn vorgestellt: Antigone ist die Jüngste, die Intelligente, die ein Referat über die Familiengeschichte vorbereitet, Ismene, die ältere Schwester: hübsch gestylte mit langen Fingernägeln, welche in einem Friseursalon arbeitet. Polyneikes der jüngere Bruder, ein Wilder mit einem Gang-Tattoo und Gangster-Slang. Der Älteste Eteokles ein leidenschaftlicher Fußballer, ruhig, sympathisch und warmherzig.
Schnitt. Antigone steht vor Ihrer Klasse und hält ihr Referat. Nervös flechtet sie die Finger ineinander. Ihre ganze Familie wollte als Flüchtlingsfamilie aus der Kabylei nach Montreal, Kanada: Die Oma, die Eltern und die vier Kinder. Doch noch bevor sie das Land verlassen konnten, wurden ihre Eltern getötet. Danach flohen sie allein mit ihrer Oma ... Während die Klassenkameraden anfangs noch vor sich hin dösten, richtet sich die Aufmerksamkeit nun auf sie. Während alle dunkle Farben anhaben, fällt sie mit ihrem roten Pullover auch hier auf. Bewegt steht die Lehrerin auf. Das junge Mädchen wird ein Stipendium bekommen: Man möchte sie unterstützen, um ihr eine bessere Zukunft zu ermöglichen. Nachdem die Schule vorbei ist, verlässt Antigone das Gebäude und klettert über einen Zaun. Ein Junge aus ihrer Klasse, Haimon, folgt ihr. Sie rollt sich über die Wiese. In den Kabylen macht man das so. Er macht es ihr nach. Sie lächeln sich an. In den nächsten Wochen verbringen sie viel Zeit miteinander: Fahren mit seinem Moped weg. Probieren Sushi. Unterhalten sich über Vertrauen. Sie trifft seinen Vater Kreon, einen ehemaligen Anwalt und Politiker. Die gut situierte obere Gesellschaftsschicht im Kontrast zu der ärmlichen Behausung der Familie Hippomene.
Alles läuft für Antigone gut. Doch da kommt es zu einem Polizeieinsatz, während Polyneikes und Eteokles mit Freunden im Freien spielen. Der Jüngere versucht wegzulaufen und wird dabei zu Boden geworfen. Als der Ältere versucht zu schlichten, fällt ein Schuss. Polyneikes weint, als er aus dem Gefängnis anruft: Eteokles ist tot, gefallen wie eine Feder. Alle sind schockiert. An der Unglücksstelle werden Tafel und Plüschtiere aufgestellt. YouTube-Videos und Erinnerungsclips werden zusammengestellt. Eteokles in der Familie und beim Fußballspielen in der Regionalliga. Immer lachend, fröhlich und strahlend. Ein Rap-Song im Hintergrund. R.I.P.
Haimon fährt mit seinem Vater bei Familie Hippomene vor. Sie sprechen ihr Beileid aus und bieten Hilfe an. Die Oma ist beschämt und kann diese nicht annehmen: Ihr Zuhause ist so ärmlich. Keiner von ihnen hat eine Staatsbürgerschaft, nur eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis. Und Polyneikes ist gerade 18 Jahre geworden. Strafmündig. Der Staat will ihn wieder in sein Heimatland abschieben. Aber dort erwartet ihn die Hölle, schimpft die Oma aufgebracht, er wird dort sterben, genau wie seine Eltern! Auch Antigone ist schockiert und verzweifelt. Sie fasst einen Plan. In einem Tattoo-Studio will sie das gleiche Gang-Tattoo wie ihr Bruder. Ihre Schwester bittet sie ihr die Haare kurz zu schneiden, genau wie die Frisur von ihrem Bruder. Heimlich will sie sich im Gefängnis mit ihm austauschen, damit er fliehen kann. Sie selbst ist minderjährig und ohne Vorstrafen: Ihr kann doch gar nichts passieren, da ist sich Antigone ganz sicher.
Doch während es Polyneikes schafft, das Gefängnis auf diese Weise zu verlassen, fliegt für Antigone die Täuschung schnell auf – und der Zuschauer findet sich in der Szene vom Anfang wieder.
Das junge Mädchen wird befragt wo ihr Bruder ist: Die Habibis haben doch Geld, was weiß sie darüber? Habibi – auf Arabisch Liebling, aber auch der Name der Bande mit dem Gang-Tattoo. Polyneikes hat hier neue Mitglieder rekrutiert, erklärt ihr ein fremder Mann. Ihr werden Akten gezeigt. Polyneikes war für den Staat nicht unschuldig. Auch die Akte von Eteokles wird vorgelegt. Kannte sie ihre Brüder wirklich? Dachte die Familie denn wirklich, dass das Geld, das er ihnen brachte, nur vom Fußballspielen kam? Der Fall Antigone Hippomene geht vor Gericht – und von nun an hat sie auch eine Akte. Bei allem wird das Konsequenzen haben: Arbeitssuche, Universität oder Studium? Das kann sie vergessen. Das ganze Land kennt jetzt ihr Bild. Und wieder gibt es YouTube-Videos: Über die knallharte Habibi-Bitch, die keinen Fick wert ist.
In der Neuinterpretation der griechischen Tragödie von Sophokles zeigt Sophie Deraspe die Hoffnungslosigkeit, wenn Gesetze an den starren Normen ohne jeden Spielraum festklammern. Antigone kämpft als Heldin für Gerechtigkeit, für ihre Familie und für den Respekt vor dem Menschen an sich, – und dieser Kampf formt wesentlich ihre zwischenmenschlichen Beziehungen. Schwächt und stärkt sie gleichermaßen. Ein schwieriger Lebensweg voller Höhen und Tiefen, wie viele jungen Menschen ihn nachvollziehen werden können, die auch mit Vorurteilen und Missverständnissen zwischen den Kulturen kämpfen, sowie sich in der Distanz von einem alten Zuhause mit der schwierigen Neu-Formung einer neuen Heimat zurechtfinden müssen. Immer wieder nimmt die Regisseurin gezielt Fragmente aus der griechischen Mythologie und übersetzt sie glaubwürdig und gekonnt in die Moderne: So hat die freiheitsliebende Antigone das Gefühl, sie würde in Isolationshaft lebendig eingemauert werden. Auf vielen Ebenen gefangen und ausgeliefert ... Ein inhaltlich starker Film, der mit dem fragilen Bild einer Realität und dessen deformierte Darstellung in den Medien bzw. sozialen Netzwerken genauso spielt, wie Sophie Deraspe mit so unterschiedlichen Genres wie YouTube-Clips und Autorenkino.
Gesichtet im Online-Angebot des LUCAS – Internationales Festival für junge Filmfans, Frankfurt am Main. Antigone konnte hier sowohl den „Bridging The Borders Award“ als auch den „Audience Award“ für sich gewinnen.
© Tina Waldeck 2020