[Bildbuch]

Jean-Luc Godard | Schweiz, Frankreich, 2018


Gefangen zwischen Katzbuckelei und Kauderwelsch

Wie in anderen experimentellen Filmen muss man sich auch hier auf seine eigenen Gefühle und Empfindungen einlassen, um aus den wahrgenommenen Fragmenten eine eigene Geschichte, eine eigene Struktur zu finden. So ist es nur eine Wegführung, die der bereits 87-jährige Jean Luc Godard in Bilderbuch zusammengestellt hat. Ein Mensch, eine Geste. Hände, die berühren. Mit den Händen Worte formen heißt, erst Mensch zu sein und zu werden? Gesten sind immer wieder verbindende Elemente. Genauso wie Revolution, Krieg und Liebe. Was fern aussieht, liegt manchmal nah: Liebe und Schönheit, die in Mord und dem Sterben münden. „Nichts ist handlicher als ein Text“. Nicht schwieriger als eine Handlung? Farbschichten und Musikebenen überlagern sich. Werden abgeschnitten, zerhackt, neu zusammengesetzt, unter- und übermalt. Man sieht in den Bildern Realitäten. Wahrheiten. Puzzelt sich seine eigene Wahrheit zusammen. Wie in der Realität. Positiv oder Negativ – Positiv und Negativ? Kaputt und beschädigt. Nichts ist einfach, oder auch: Nichts ist einfacher als die Realität. Alles vermischt sich. Fragmente von Erinnerungen, verblassend und surreal überzeichnet. Filmausschnitt von Pasolini und anderen. Bilder von Gustave Caillebotte und anderen. Es liegt in den eigenen Händen, was man wahrnimmt. Wie man mit den Gegebenheiten umgeht. Wie man agiert und reagiert. Die energische Geste des Politikers und die Stimmen von Demonstranten. „Erinnern sie sich.“ Kinder in der Menge, die ihre Arme in die Kamera strecken. Tugend und Terror. Applaus. Auf eine zerstörte Umwelt. Mit Volldampf fährt der Zug mit den Brüdern Lumière ins Grüne hinein – zumindest in die farbliche Überzeichnung von etwas, das auch grün sein könnte. Aber die Passagiere schlafen sowieso. Und in manchen Bahnhöfen klingt auch Goethe schrecklich ... 


Filmbild aus Bildbuch ©Jean-Luc Godard
Filmbild aus Bildbuch ©Jean-Luc Godard
Filmbild aus Bildbuch ©Jean-Luc Godard
Filmbild aus Bildbuch ©Jean-Luc Godard

Bewusst leben? Ja, wenn wir denn leben würden – wo liegt denn das Lebendige? Gebrochene Texte. Erinnerst du dich noch daran? Stille, dann schreien. Slow-Motion-Sequenzen. Weg, nur weg! Der Tod der Sprache. Grauer Staub. Flimmern und Abstraktion, bis man nichts mehr erkennt. Die Stimme taucht rechts auf. Dann erklingt sie abrupt von links. Bis der Stereo-Ton eine traurige Melodie bläst. Von Gewalt, Ruhe und Vergänglichkeit. Ein Mensch steht an einer Klippe. Kurz vor Absprung? Unruhige Wellen, eine weinende Frau und grüne Palmblätter im dröhnenden Wind. Eine subversive Bewegung? Fußballspieler rennen. Menschen rennen nach einem Angriff. Überzeichnet und verfremdet, aber nicht fremd. Was glauben, was fühlen, was sagen? Keiner träumt mehr davon, Faust zu sein. Aber vielleicht ist man dafür noch nicht traurig genug.    


Filmbild aus Bildbuch ©Jean-Luc Godard
Filmbild aus Bildbuch ©Jean-Luc Godard
Filmbild aus Bildbuch ©Jean-Luc Godard
Filmbild aus Bildbuch ©Jean-Luc Godard

Was macht einen guten Experimentalfilm aus? Eine ungewohnte Seherfahrung und ein intellektuell anspruchsvolles Denken? Experimentelle Filme brechen mit der Norm der Sehgewohnheit an Filmen, die im Mainstream konsumiert werden, und finden damit eine eigenständigere Form und Bildsprache. So ist Jean-Luc Godard hier als Filmemacher, aber auch als Künstler, frei, alle ästhetischen Verfahren nutzen zu können, die er nutzen möchte. In diesem Genre werden die Brüche, Überlagerungen und verfremdeten Fragmente nicht als Fehler, sondern als notwendiger Ausdruck dieser Bildsprache angesehen. Zu sagen, was man sagen möchte: wilder und ungezähmter als die Norm und in einer anspruchsvollen ästhetischen Erfahrung. Subjektiv und emotional. Und ein gut gewählter Weg, um das, was Godard in seinem Leben gesehen und erfahren hat (und noch sieht und erfährt), verarbeiten zu können. So entstehen Vergleiche, Skizzen und filmische Scribbles. Parlez? Geigen. Distanz und Nähe. „Nichtigkeiten fürs Ohr“ und Leichen für den fruchtbaren Boden ... Melodien müssen nicht immer identisch sein, um sich miteinander harmonisch zu verbinden. So ist der Film von Anfang bis zum Ende ein Bild(er)buch von einem Experimentalfilm, der in jeder Lektion für den angehenden Nachwuchs auf der To-do-Liste stehen sollte, um zu erleben, wie man mit diesem Genre umgehen kann: poetisch und politisch. Mit den handwerklichen technischen und bildhaften Kontrasten (nicht nur schwarz/ weiß oder bunt), sowohl den musikalischen (nicht nur laut/ leise oder sanft/ rau) als auch den inhaltlichen (nicht nur Krieg/ Frieden oder Handlung/ Stillschweigen) ... In der Ferne träumerisch und doch nah an der Realität: Wenn man bereit ist, sich darauf einzulassen, sieht man, wie sehr Godard auch mit diesem Film sein Medium beherrscht – und das nicht mit einer herrischen Geste, sondern tatsächlich mit einer berührenden.


© Tina Waldeck 2020