[Detachment]

Tony Kaye | USA, 2011


Filmbild aus Detachment ©Tony Kaye
Filmbild aus Detachment ©Tony Kaye

Mit diesem Zitat von Albert Camus beginnt der Film Detachment und zeigt damit schon in den ersten Minuten, das er in seiner Umsetzung ein Avantgardefilm ist. Mit unterschiedlichen Techniken und Stilen – wie gezeichneten Animation, Stop-Motion-Sequenzen und dokumentarischen Fragmenten, die zwischen den inszenierten Elementen eingebettet sind – wird sozialkritisch das Bildungssystem in Amerika beleuchtet. Dabei funktioniert Adrien Brody (wie eigentlich immer) ganz wunderbar als tragische, gebrochene, aber trotzdem liebenswert in der rauen Gesellschaft überlebende, Figur. Erinnern wir uns: 8 Jahre zuvor hatte er bereits als Pianist in Roman Polañskis Drama geglänzt und mit Clean von Paul Solet wird 2020 wieder ein Drama mit ihm in die Kinos kommen. 

Tony Kaye inszeniert ihn in Detachment in vielen Nah- und Detailaufnahmen. Intensiv sind seine geflüsterten Sprach-Überlagerungen. Manchmal poetisch, dann wieder ganz klar und bodenständig: für die Situationen, die auch in der Realität nicht viel Schönheit haben. Gerade Bodenständigkeit können nicht viele Regisseure. Tony Kaye dagegen hat schon einige sozialkritische Filme gedreht. Bereits seine ersten Musikvideos weisen diesen Fokus deutlich auf: “Runaway Train“ von Soul Asylum bekam dafür einen Grammy, sein Spielfilmdebüt “American History X“ wurde von den Filmkritikern gefeiert und “Lake of Fire“ mit einer Oscar-Nominierung ausgezeichnet. 


Filmbild aus Detachment ©Tony Kaye
Filmbild aus Detachment ©Tony Kaye

Der Regisseur zeigt in Detachment auch in seiner überfüllten Darstellungsweise deutlich das chaotische und überforderte menschliche Verhalten – und wie man mit den Herausforderungen, die einem das Leben stellt, entweder wächst oder scheitert. Manchmal liegt beiden nah beieinander. Losgelöst von den eigenen Gefühlen, aber verbunden mit allen. Die abgestumpften, wütenden, traurigen Kindern, von denen keines in die Gesellschaft hinein zu passen scheint und die mit ihren Problemen meistens allein sind, zu dem (scheinbar) gefühllosen Lehrer der versucht ihre Sorgen aufzufangen. Sei dies Rassismus und Ausländerfeindlichkeit, Sexualität und Körperlichkeit jenseits der Norm – zeitlose Probleme, die gerade in den USA immer wieder zu Anspannungen und emotionalen Entladungen führen. Sowohl bei den Kindern, die in dieser Gesellschaft aufwachsen, als auch bei den Erwachsenen (den “Lehrenden“, egal, ob sie von Beruf Lehrer sind oder nicht), die diese Gesellschaft formen. Und die den Druck, den sie selbst haben, an die Kinder weiter geben. Emotionale Stabilität scheint niemand zu haben.

Adrien Brody als Mr. Barthes – Hinweise auf Roland Barthes sind an vielen Stellen des Films präsent – zeigt, das soziale Bemühungen schwer sind und gleichermaßen belohnt wie auch bestraft werden: Sei dies anhand seiner Schüler, die ihn irgendwann doch zu schätzen wissen, die jugendliche Prostituierte, der er hilft und eine Bleibe bietet, sein an Demenz erkrankter Opa, den er jeden Tag besucht und dem er am Ende, in der Rolle seiner Mutter, vergibt, sodass er mit einem guten Gefühl sterben kann. Die unausgesprochene Pädophilie des Opas.  Seine Mutter: Hat sie sich wegen ihm umgebracht? “The hole thing is fucked.“


Filmbild aus Detachment ©Tony Kaye
Filmbild aus Detachment ©Tony Kaye

Die immer wieder eingeblendeten Rückblenden von seiner Kindheit und die Erkenntnis, das auch hier Probleme liegen, die nie gelöst worden sind oder wo nie die Energie oder Zeit war, sie zu lösen. Die Angst von ihm, auch pädophil zu sein oder zu werden. Seine Schülerin, die in ihn verliebt ist. Die junge Prostituierte, die für immer bei ihm bleiben möchte. „Wir haben alle unsere Baustellen, die wir mit uns herum tragen.“ Unterdrückte Emotionen. Abweisungen. Sozialverhalten, das nicht miteinander, sondern aneinander vorbei führt. Jeder hat nur einen begrenzten Platz für die Probleme der anderen. Für die Prostituierte findet sich ein Platz in einer Einrichtung. Wo findet man seinen Platz? Wo liegen die Lösungen der Probleme? In der Flucht? In der Verdrängung? Im Selbstmord? Die immerwährende Spannung, die sich stetig weiter aufbaut, spitzt sich bis zu dem letzten Arbeitstag des Aushilfslehrers zu. Macht er nun einen sehr guten Job – oder einen sehr schlechten? Der Daseinszustand der Leere. Wo es mit Camus beginnt, da endet es auch wieder mit Camus. Und mit Detachment – dem Versuch des Loslösens.  


© Tina Waldeck 2020