[Goldhammer]

André Krummel & Pablo Ben Yakov | Deutschland 2023


Ist es nur eine „Eigenart der Zeit“ zu wissen, wie eine Person eigentlich ist? Im Intro fliegen in experimentellen Ansätzen die Spiegelungen der Identitäten von Marcel Goldhammer durch dunkle Raum-Zeit-Konstellationen, in die das Dasein verortet wird. Cut in das Influencer-Dasein hinein, in welchem Analverkehr nicht nur erklärt, sondern moderat vorgeführt wird.


Filmbild aus Goldhammer ©André Krummel & Pablo Ben Yakov | Deutschland 2023
Filmbild aus Goldhammer ©André Krummel & Pablo Ben Yakov | Deutschland 2023

Guter Rhythmus – im Schnitt

Im Fernsehen begann das Jahr 1987 mit einem Fauxpas, denn die ARD sendete die Ansprache von Helmut Kohl aus dem Jahr zuvor – und entschuldigte sich aufrichtig dafür. Im Mai des Jahres wurde Marcel Goldhammer in einem kleinen Dorf in der Pfalz geboren, was ihn glauben ließ, auch dort hätte es eine Verwechslung gegeben: Denn er schien dort so gar nicht dort hineinzupassen. 

Mit 14 outete sich Marcel als schwul, mit 15 machte er sich auf den Weg nach Berlin, mit 18 spielt er zum ersten Mal im Tatort. Doch sein Geld verdiente er da schon mit einem anderen Job: einem Blog als Berliner Callboy. Er liebte die Aufmerksamkeit und wie er sie bekam, war ihm egal. Er lebte gut vom Escort und den Gefühlen der anderen Menschen: Reisen quer durch die Welt, Champagner, Sex und Kokain wurden zu seinem Alltag, seinem neuen Zuhause.

Vom „Beziehungs-blablabla“ zur Politik

Mit 18 betrat Marcel zum ersten Mal eine Synagoge, konvertierte mit Anfang 20 zum Judentum und schrieb sich für ein paar Wochen in die israelische Armee ein. Wieder zurück in Berlin – und nach einem Kokain-Entzug – nahm er aus Langeweile an einem deutschen, rechtsorientierten Schreibwettbewerb teil, belegte den zweiten Platz und ließ sich als AFD-Direktkandidat in Berlin-Neukölln aufstellen, wurde zum stellvertretenden Vorsitzenden für die Bundesvereinigung Juden in der AfD (JAfD) und Pressesprechers der AHO (Alternative Homosexuelle).



Da schüttelt (nicht nur) seine Oma in dem kleinen Dorf an Weihnachten den Kopf, – in dem Moment, wo die ganze Familie zusammen kommt, sprechen sie zwar Dialekt, aber reden auch Tacheles: Wo sind sie eigentlich, die noch normal denkenden Menschen, – auch auf der politischen Bühne? In dem Jahr der Dreharbeiten zieht Marcel an Silvester alleine – und ohne Neujahrsansprache – seine Nase Kokain im Hotelzimmer: „Das endet nicht gut mit dir“, prophezeit ihm die Mutter am Telefon. Er will nur er selbst sein und nicht immer etwas vorspielen müssen, erklärt er. Und spielt weiter.

FAZIT

Nach dem künstlerischen Intro, welches ein ungeheures Tempo vorgibt, wird es wesentlich ruhiger, wohl auch, damit die Zuschauenden die vielen Wendungen in dem Film einigermaßen heil überstehen können. Immer, wenn das Kamerateam ein bestimmtes Bild von Marcel aufgebaut hat, ist dieses in der nächsten Szene bereits wieder verschwunden. Eine pathologische Persönlichkeitsstörung? Alles scheint sich „passend“ zurechtbiegen zu lassen. So erzeugt die Dokumentation keinen Raum, um tatsächliche Gefühle für diese irgendwie alles ins Lächerliche ziehenden und oberflächlich kreierte Kunst-Figur empfinden zu können. Aber auch wozu? Wozu ehrliche und inhaltsvolle Beziehungen, Freundschaften oder politische Engagements, wenn schnelles Geld, exzessiver Sex, Ruhm oder Kokain-Konsum die Leerstellen in einem füllen können? Eine Sinnsuche der anderen Art.


«Goldhammer» lief auf dem Filmfestival Max-Ophüls-Preis 2023 im Wettbewerb Dokumentarfilm.


© Tina Waldeck 2023