[ Heimat ist ein Raum aus Zeit ]

Thomas Heise | Deutschland 2019


Autobiografische Züge

Ein dünner Stab vor einem dicken Baum. Langsam fährt die Kamera nach oben zu einem Schild. Nach der Legende stand hier einst Großmutters Haus. Rotkäppchen Figuren im deutlich veralteten Design. Von der Märchen-Szenerie zu den Schrecken des Ersten Weltkrieges in nur einem Schnitt. Die Kamera fährt an einen gut gekleideten jungen Mann hinauf. Eine Stimme aus dem OFF beginnt poetisch zu sinnieren. Weinen und Klagen über den verloren gegangenen Vater und dessen Söhnen. 23. August 1914 – unvergessen. (Das Massaker von Dinant wird nicht explizit erwähnt und nur durch das Datum angedeutet, wie auch bei vielen weiteren geschichtlichen Ereignissen im Verlauf des Films.)


Filmbild aus Heimat ist ein Raum aus Zeit ©Thomas Heise
Filmbild aus Heimat ist ein Raum aus Zeit ©Thomas Heise

Warum müssen gerade wir in so einer Zeit leben?

Fast meditativ werden alte, vergilbte Fotografien mit der Kamera in Bewegung gesetzt. Von den männlichen Nachkriegsfragmenten des Ersten Weltkrieges wendet sich die Geschichte der weiblichen Sicht zu: Edith Hirschhorn, Tochter jüdischer Eltern, ging auf das einzig öffentliche Gymnasium für Mädchen sowie ab 1914/15 auf die staatliche Kunstgewerbe-Schule. Sie lernte zeichnen, malen und Plastiken zu formen. Überall gab es heftige politische Diskussionen, aber ansonsten war es ein kameradschaftliches Miteinander. 1918 kamen die Revolutionen. Vater Max Hirschhorn schreibt an seine Tochter: Im Krieg wird der Mensch zum Tier! Doch alles war weit weg von ihr, – nur ihre Arbeit war ganz nah. Später soll es ihr vorkommen, als sei sie damals irgendwie vernebelt gewesen. 1922 geht sie als künstlerische Leiterin nach Berlin. Auf der visuellen Ebene tropft Wasser emsig auf den Boden. Gewitter grollen. Das Hereinfahren eines Zuges, bedrohlich und bildschirmfüllend. Wie bei den Brüdern Lumière. Minutenlang zieht er an dem Zuschauer vorbei, alles andere verdeckend. Noch kaum die Vergangenheit verarbeitet und schon in der Vorahnung auf das Kommende. Das Element der fahrenden Züge soll auch weiterhin stetig auftauchen.

„Geben sie mir Nachricht, wenn sie Zeit und Lust auf ein gemeinsames Treffen haben, liebe Edith!“ Briefromantik. Er unterrichtet in Tegel, ist Lehrer und Studienrat. Eine ihrer Skulpturen wird gezeigt: kopflos. „Wenn wir uns wiedersehen, soll es nur noch schön sein, lieber Wilhelm!“ Bald kennen sie sich ein Jahr und sind verlobt. Wissen seine Eltern eigentlich, dass sie Jüdin ist? Dass sie kein Geld hat? Das Gefühl, von ihm finanziell abhängig zu sein, ist ihr jetzt schon nicht recht. Sie beginnt zu sparen. Das Brot kostet bald zehn Milliarden Mark, die Straßenbahn 800 Millionen, eine Morgenzeitung 500 Millionen. Sie verdient für einen Kurs, den sie hält, 80 Milliarden – das ist nichts, und am nächsten Tag kann schon wieder alles anders sein. Inflation. Unsichere Zeiten. Nichtsdestotrotz malen sie sich eine harmonische Ehe aus. Auch ihre Eltern Max und Anna Hirschhorn schreiben und begrüßen ihn freudig in ihrer Familie. Es ist schön, dass „ihre Dittle jemanden gefunden hat, der ihrem Wesen ganzes Verstehen entgegenbringt.“ So heiraten Edith Hirschhorn und Dr. Wilhelm Heise 1924.


Filmbild aus Heimat ist ein Raum aus Zeit ©Thomas Heise
Filmbild aus Heimat ist ein Raum aus Zeit ©Thomas Heise

Das Schöne ist nichts als der Anfang des Schrecklichen

Regen verhangene Straßenbahnscheiben. Eine freundliche Frauenstimme aus dem Hintergrund: Bitte seien Sie achtsam! Zwei Babys kommen zur Welt und wachsen zu Kleinkindern heran: Wolfgang und Hans. Briefe werden auch weiterhin mit der Familie ausgetauscht. Zehn Jahre vergehen. Dann flatterte 1937 eine Ankündigung des Reichsministers ins Haus: Sie betreiben eine „Misch-Ehe“. Vorzeitige Pensionierung für Herrn Heise. Ein überlagerndes Sprechen der Stimme aus dem OFF, die als Ehemann dessen empörte und doch höfliche Antwort vorliest: Er ist jetzt 40 Jahre alt und hat zwei Kinder von 10 sowie 11 Jahren. Wirtschaftlich ist die Zwangspensionierung eine Katastrophe! Höflich. Bestimmt. Und doch verzweifelt. „Mit Gottes Hilfe wird alles wieder gut. Es ist nur wichtig, die Gesundheit zu erhalten – und den Humor“, schreibt die Familie. Aber auch in Wien wird es immer ungemütlicher: Ediths Eltern müssen mit ihren Geschwistern von einer 3-Zimmer-, in eine 1-Zimmer-Wohnung ziehen.

Die ersten Listen mit Namen beginnen 1939 stumm und doch gewaltig durch das Bild zu laufen, schier endlos ziehen sie an der Kamera vorbei, bei A beginnend. Als Ton-Unterlegung werden weiterhin Briefe vorgelesen und verdichten sich immer mehr zu Zeitzeugen-Dokumenten, die berichten, wie sich das Leben und der Alltag der Familien immer weiter eingeschränkt. Dabei versuchen sie nicht ihre Hoffnung zu verlieren: Kohlen werden zwar rationiert, aber immerhin müssen sie ja anstatt der drei Zimmer nur noch eines heizen ...

Ab September 1941 spekuliert man über eine Aktion in Polen. Die Gerüchte verbreiten sich rasend. „Wir wollen vorerst nicht verzweifeln und abwarten, was da kommt.“ 16 Jahre wird da der älteste Sohn Wolfgang. Wie die Zeit vergeht. Edith darf gar nicht daran denken, dass sie auch davon betroffen sein könnten. Schon einen Monat später wird aus den Gerüchten Realität und die immer noch durch das Bild laufenden Liste erreicht den Buchstaben H. Banale rote Striche unter den betreffenden Namen, ohne das die Fahrt der Kamera stoppt. Unbeeindruckt läuft sie, wie das Leben, einfach weiter geht. Max Hirschhorn wäre es lieb, wenn sie selbst vielleicht erst im Frühjahr Wien verlassen müssten. Die Kohlen wurden ihnen mittlerweile zwar ganz genommen, aber vielleicht wird es ein milder Winter. Er geht auch nicht mehr viel auf die Straße. Er kann sich nicht an die „Dekoration“ am Arm gewöhnen. „Wir leben jetzt in einer Zeit, wo wir nicht mehr nach unserem Empfinden handeln können.“


Filmbild aus Heimat ist ein Raum aus Zeit ©Thomas Heise
Filmbild aus Heimat ist ein Raum aus Zeit ©Thomas Heise

Im Januar 1942 dringen sie dann in die Wohnung ein: zwei SS-Männer und zwei jüdische Ordner. Eilig schreibt Vater Max noch Zeilen aus der Sammelstelle, wo er und die älteste Tochter Elsa verharren. Sie werden wie Gefangene behandelt. 200 schlaflose Personen in einem Raum. So etwas hätte er sich nie vorstellen können! Die zurückgebliebenen versuchen positive zu denken: Papa ist bestimmt in einem Altenheim untergebracht und Elsa hat irgendwo Arbeit. Edith wundert sich selbst über ihre Ruhe. Niemand bekommt eine weitere Nachricht von ihnen

Die Liste rollt in ein schwarzes Bild und aus dem OFF klingt das Lied „Mach dir nichts daraus“ von Marika Rökk und Walter Müller (aus dem Film „Die Frau meiner Träume“ von 1944). Die Kamera fährt an Straßen entlang. Wüste Zerstörung: Schutt und ausgerissene, entwurzelte Bäume. Quälende Ruhe nach dem Lied. Anlagen mit hohen Windrädern, die lange dunkle Schatten werfen. Dann beginnen die Stimmen wieder zu lesen und der Fokus legt sich auf den ältesten Sohn, Wolfgang Heise. Im November 1944 werden er und sein jüngerer Bruder Hans von der Gestapo aufgegriffen und ins Arbeitslager Zerbst gebracht. „Keine Angst, liebe Eltern, wir kommen hier schon nicht unter die Steine.“ Die Zeit der Bombenangriffe. Er hofft, dass sie „im gegebenen Moment das jeweils sinnvollste erkennen und auch tun können.“ Alles ist ungewiss. Den freien Nachmittag verbringen sie im Kino: „Die Frau meiner Träume“. Na ja, durch die Sirenen mussten sie immerhin nicht den ganzen Film absitzen … Ironische Zwischentöne. Auch hier. 


Filmbild aus Heimat ist ein Raum aus Zeit ©Thomas Heise
Filmbild aus Heimat ist ein Raum aus Zeit ©Thomas Heise

Fazit

Das vierstündige Familienepos, geteilt in fünf Kapiteln, von denen wir uns hier nur eines (!) angesehen haben, wirkt fast schon wie ein Epos im Stil von Thomas Mann. Zielstrebig bewegt man sich dabei geschichtsträchtig durch die unterschiedlichen Generationen – und mit ihnen immer durch den Strom der Zeit. Sohn Wolfgang wird nach dem Krieg Philosophie studieren und auf Literaturwissenschaftlerin Rosemarie treffen. Diese beschäftigt sich schon früh indirekt mit weiblicher Selbstbestimmung: als Jugendliche zwischen den Trümmern und Leichen herum strauchelnd, zwischen dem verzweifelten, panischen Klammern an einen beschützenden, versorgenden Mann und einem selbstständigen Voranschreiten auf dem eigenen Weg. Der Versuch, von unzähligen Verehrern, in Briefen an sie gerichtet, dagegenzuhalten: „Gleichberechtigung ist unlogisch, unnatürlich und unsinnig!“ Strukturelle Umschwünge in der Gesellschaft und viele politische Gedanken, die auch später an den Söhnen von Wolf und Rosie nicht vorbeigehen werden: Andreas und Thomas Heise – Letzterer der Filmemacher selbst. Hier erblickt man Berlin zu DDR-Zeiten. Sanktionen der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands gegenüber dem Vater. Überwachung durch die Stasi. Jede Zeit scheint ihre eigenen Einschränkungen zu haben.

Dabei werden die Dokumente ohne viele Schnörkel und doch im höchsten Maße feinfühlig visualisiert. Gerade die ersten beiden Kapitel verdichtet sich mit den fesselnden Briefen und Tagebüchern, die gerade durch ihre essenziellen Erfahrungswerte glänzen und berühren, und minimalen Szenerien dazu, in denen die Gedanken der Zuschauer auch den Raum finden, sich in den tiefgehenden Inhalten verlieren zu können. Gegen Ende fädelt die Handlung etwas unbestimmter, ein wenig den Fokus verlierend, aus, was aber die Faszination der Lebensentwürfe nicht schmälert. Jeder Betrachter findet hier seine eigenen persönlichen Anknüpfpunkte. Der Film ist somit das nächste historische Dokument – in einer Zeit, wo bei neuen Unruhen aus alles Richtungen ebenfalls ungewiss ist, wo die autobiografischen Züge als Nächstes hinfahren werden ...

[Ein kleines Gimmick am Ende: In dem Märchenwald von zu Beginn ist Wolfgang Heise mit Christa Wolf oft spazieren gegangen. Beide hatten sich in einem Sanatorium in Berlin kennengelernt, beide tragen den Wolf in sich. Ein nettes Detail, das man leider nicht unbedingt im Film bemerkt hätte, sondern im Gespräch mit Editor Christ Wright bei der diesjährigen Edimotion – Festival für Filmschnitt und Montagekunst entschlüsselt wurde.] 


© Tina Waldeck 2020