[ Man on the Bus ]
Eve Ash | Australien 2019
Eve Ash hat ihr ganzes Leben lang gefilmt, doch erst die Filme ihrer Mutter verändern ihr eigenes Leben
Die Regisseurin stellt ihr Familie vor: Sie und ihre Schwester wurden aufgezogen, um stolze jüdische Kinder zu sein. Ihre Eltern waren beide Holocaust-Überlebende. Ihre Mutter Martha wurde in Solotschiw in der Ukraine, früher Polen, geboren. Der Vater stirbt, als sie fünf Jahre alt war. Die Mutter hatte ihr eigenes Hutgeschäft und war für ihre Zeit sehr selbstständig. Doch dann kamen die Bomben: Schüsse und das Marschieren von Stiefeln prägt sich in die Erinnerung der jungen Martha ein. 1940 heiratete sie ihren ersten Ehemann. Sie freute sich auf ihr neues Leben – und dann kam der Zweite Weltkrieg in noch größerer Wucht: Ihr Hausmädchen erzählt ihnen, das sie Juden umbringen würden. Sie müssen einen Platz suchen, um sich zu verstecken. Martha verlor ihre Mutter und ihren Ehemann in derselben Woche – und musste alleine weitergehen. Sie hatte dabei noch Glück im Unglück: Sie sah mit ihren blonden Haaren nicht jüdisch aus. Dadurch bekam sie falsche Papiere und war in der Lage, im Verborgenen weiterzuleben. Sie arbeitete als Sekretärin in der Kleidungsindustrie und traf auf Feliks Ash – dieser bewarb sich hier ebenfalls um einen Job. Zwei einsame Menschen, die alle anderen verloren hatten.
Eine alte Filmaufnahme des Vaters wird eingespielt. Auch dessen Freunde und Familienmitglieder wurden im Zweiten Weltkrieg gefangen genommen und kamen nie zurück: Seine Mutter; seine Schwester mit dem zweijährigen Kind. Er selbst heiratete seine erste Frau früh im Krieg. Als sie ins Lager kamen, hatten sie beide eine Notfall-Kapsel mit Zyankali in der Tasche. Sie warf nur einen Blick auf das Camp und nahm die Kapsel; er nicht. Er wurde mehr als einmal zusammengeschlagen und mehr wie ein Hund, als wie ein Mensch, behandelt. Seinen Bruder fand er in einem Massengrab: Sie mussten ihre eigenen Gräber schaufeln ... Da beschloss er die Flucht und war danach zwar ein gejagter, aber ein freier Mann. Er überlebt und mit ihm der Name seiner Familie. Stolz und trotzig sieht er in die Kamera. Heute gibt es mehr als nur einen „Ash“. Auch eine Tonbandaufnahme der Mutter erklingt: Für sie war er ein Held. Keiner hat ihn gerettet wie die anderen. Er hat sich nicht retten lassen. Er hat sein Leben selbst gerettet!
Martha und Feliks heirateten 1944. Ein Cousin ihres Vaters lebte damals in Australien. So zieht die kleine Familie 1949 auf der Suche nach Sicherheit dorthin. Es musste ein großartiges Gefühl gewesen sein, hier die ganze Familie großzuziehen – an einem Platz, an dem sie sich geborgen fühlen konnten. Erst kam Heleen zur Welt, dann 1951 die Filmemacherin. Ihr Vater war oft auf Geschäftsreise und hat dann viele Briefe an die Familie geschrieben. Aber sie haben auch viel zusammen gemacht. Ihre Mutter war im mittleren Alter eine sehr kreative Frau und mochte es aufzufallen und zu unterhalten: Alte Tonaufnahmen von ihrer Mutter werden mit fröhlicher französischer Chanson-Musik untermalt. Im Krieg wurde viel verdrängt und manche Dinge glaubte man später, auch wenn sie eigentlich eine Lüge waren. In den Unterlagen findet sich ein verändertes Geburtsdatum von ihr: Sie hat sich sieben Jahre jünger gemacht. Sie redete viel und flirtete noch mehr. Es gab viele Themenpartys im Haus. Alles fotografisch und filmisch dokumentiert. Die Familienmitglieder sind sich einige, dass Martha den besten Ehemann hatte: Aber sie war nie zufrieden und wollte immer mehr, obwohl sie doch schon so viel hatte.
Eves Schwester wird vor der Kamera interviewt. Als Heleen einmal nach Hause kam, saß ihre Mutter auf dem Boden und sprach in einer „sexy“ Stimme. Als sie ihre Tochter sah, verbot sie dieser mit irgendwem darüber zu sprechen. Dann bekam Feliks Herzanfälle – und das letzte Mal kam er von einer Dienstreise nicht mehr nach Hause. Schon danach fragten die beiden Mädchen ihre Mutter, ob es da Affären gegeben hatte. Niemand muss das Wissen, war die diskrete Antwort. Also gab es welche, da sie die Frage nicht verneinte? Interviews mit Familienmitgliedern und langjährigen Freunden der Familie, um dem Verdacht ein für alle Mal auf den Grund zu gehen. Doch keiner weiß etwas oder will etwas davon wissen. Im Gegenteil: Eve soll die Vergangenheit ruhen lassen und keine Schande über die Familie bringen! Doch diese sucht die Wahrheit. Auch der Arzt ihrer Mutter in Australien wird befragt: Und nein, die Mutter war nicht glücklich in der Ehe. Aus sexueller Sicht. Wenn der Sex nicht gut ist in einer Ehe, ist das ein wesentliches Problem. Sie hatte Freunde, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Doch da war bei keinem eine Bedeutung dahinter – sie verehrte ihren Mann Feliks, da ist sich der Arzt ganz sicher.
Die Mutter stirbt erst 1996 – im Alter von 80 Jahren. Nach ihrem Tod findet Eve die Super-8-Kamera von ihr und ließ die alten Schmalspur-Filme entwickeln. Sie war fasziniert von den Aufnahmen der Schwester und ihr, den noch jungen Eltern: Aufnahmen einer Zeit, an die sie keine oder nur kaum Erinnerungen hat. Und dann tauchte in den Aufnahmen ein fremder Mann auf. In einer alten Tonbandaufnahme von früher erzählt die Mutter, dass sie einmal einen Mann in einem Bus von North Road nach Osmond traf. Er diente während des Krieges und sprach Französisch. Warum erwähnte sie ausgerechnet diesen einen Mann im Bus – und ist dies der Mann in den Filmaufnahmen, die so seltsam vertraut wirken?
Auf vielen verschlungenen Umwegen puzzelt die Filmemacherin aus dem wunderbaren alten Film- und Tonmaterial ihre Familiengeschichte neu zusammen. Dabei schreibt sie nicht nur den Stammbaum der „Ash’s“ um, sondern hinterfragt auch die Vorstellungen von Familie: ausgehend von den Vorkriegs-Identitäten, im zerstörten Kriegsszenario und einer folgenden neu-zusammenwachsenden konservativ jüdischen Welt, die die Schmerzen und Verluste versuchen erfolgreich zu überlagern und die am Ende in einer beginnenden progressiven-liberaleren Liebes-Vorstellung landen, welche den jeweiligen Bedürfnissen einen Halt gibt, ohne jemanden verletzen zu wollen. Dabei laufen im Hintergrund des Films immer subtil zwischenmenschliche Schuldfragen mit, ohne das Eve Ash auch nur einmal diese vorwurfsvoll in den Vordergrund treten lässt, trotz einiger Tränen. Das macht den Film in seinen verschlungenen Pfaden genauso menschlich und sympathisch, wie die Menschen innerhalb der Familie.
© Tina Waldeck 2020