[ Mater ]

Jure Pavlovic | Estland 2019


Dezente Musik im Hintergrund und ein Rauschen, das immer lauter wird: Ein innerlicher Sturm in der eingeengt und unbeweglich im Bus sitzenden Frau. Im nachfolgenden Schnitt geht sie an einer Straße entlang und nähert sich einem Tunnel – die Kamera in einer Over-Shoulder Einstellung, welche sie im Laufe des Films noch oft begleiten wird. Der Zuschauer läuft mit ihr den Weg, der ihr offensichtlich nicht leicht zu fallen scheint. Sie holt tief Luft und tritt in ein Haus ein, das sich als ihr Elternhaus erweisen wird, in dem die längst vergangene Erinnerungen immer noch nachhallen. Sie sieht ihr Spiegelbild in einer Scheibe. Dreht sich herum und schluckt. Legt die Hand an die Schläfen. Faltet die Hände. Und tritt ein.


Filmbild aus Mater ©Jure Pavlovic | Estland 2019
Filmbild aus Mater ©Jure Pavlovic | Estland 2019
Filmbild aus Mater ©Jure Pavlovic | Estland 2019
Filmbild aus Mater ©Jure Pavlovic | Estland 2019

Im Inneren empfängt sie keine lange überschwängliche Begrüßung. „Möchtest du Eier?“ „Nein.“ „Ach, doch mach ihr ruhig ein paar, wegwerfen kann man sie immer noch“, meint die Mutter trocken zu ihrer Haushaltsgehilfin. Erdrückende und konservative Spießigkeit mit verbalen Zwischentönen: Jasna verzieht das Gesicht. In subtilen Anspielungen wird schon früh das angespannte Verhältnis zwischen Mutter und Tochter in dem Haus inszeniert. Die Ungerechtigkeit zwischen den Geschwistern. Frühere Schläge. Die schwere Arbeit auf dem Hof. Das Sterben von Vater und Bruder. Mutter und Tochter, beide mit dem jeweils eigenen Gefühl an ihrer Vergangenheit zu ersticken. Nein, Ankes Blutdruck ist nur zu hoch, deswegen fällt ihr das Atmen so schwer. Sie soll ihre Tabletten nehmen und sich schonen. Doch die Mutter arbeitet weiter hart in ihrem Haus und im Garten. Sie ist stolz auf dieses Fleckchen Erde und lässt es sich von niemandem wegnehmen. Hier ist ihr Zuhause, hier möchte sie sterben. Doch es ist genau die Aufgabe der Tochter – die deshalb extra von Berlin angereist ist – Anke von ihrem besten zu überzeugen: von einem Umzug in ein Pflegeheim. Doch ist das wirklich das Beste für die alternde Frau? Oft telefoniert Jasna abends mit ihrem Mann und den beiden kleinen Kindern. So schnell wie möglich möchte sie wieder zurück in ihr eigenes Zuhause. Doch aus Wochen werden Monate. 


Filmbild aus Mater ©Jure Pavlovic | Estland 2019
Filmbild aus Mater ©Jure Pavlovic | Estland 2019
Filmbild aus Mater ©Jure Pavlovic | Estland 2019
Filmbild aus Mater ©Jure Pavlovic | Estland 2019

Fazit

Beklemmend, wie weder sie noch ihre Mutter Luft zu bekommen scheinen, eingeengt in dieser ungewissen Situation, die nur ganz sicher in das unweigerliche Ende führen wird. Viele der Freunde von Anke sind bereits gestorben: Diese wurden alle von ihren Kindern betreut. Unterschwellige Vorwürfe. Trotz und Misstrauen. Anke hat die letzten Jahre ja auch ohne die Hilfe ihrer Tochter überlebt. Oft bleibt die Mutter unscharf im Hintergrund, während die Kamera weiter über die Schultern von Jasna positioniert ist. Die Verantwortung, die schwer auf diesen Schultern ruht. Als Zuschauer verfolgt man das Einfinden vor ihr in diese vergangene Welt, die eigentlich die Welt ist, die sie für immer hinter sich lassen wollte. Jeder, der sich schon einmal mit der Pflege von Elternteilen befassen musste, und insbesondere bei solchen, zu denen man ein gespaltenes Verhältnis hat, kann sich empathisch in diese schwierige Situation hineinversetzen. Ein manchmal bitteres Thema, das in diesem Film aber ohne großen Pathos und mit sensibel inszenierten Nuancen beobachtet sowie außergewöhnlich lebensnah und gefühlsecht inszeniert wird.




© Tina Waldeck 2020