[ Mein Vietnam]

Thi Hien Mai und Tim Ellrich | Deutschland, 2020


Vor 30 Jahren kamen die Eltern der Regisseurin Thi Hien Mai von Vietnam nach Deutschland. Der Dokumentarfilm begleitet die beiden im Zeitraum von drei Jahren – zwischen 2016 und 2019 – und zeigt, wie sie versuchen, die Verbindung nach Hause mit einem exzessiven Gebrauch von Telefon und Internet aufrechtzuerhalten. Eine Entfernung, die zur Entfremdung führt, obgleich man doch verbunden ist. Die Lethargie einer umgetopften Heimat.

Bays und Tams Leben

Das älter werdende Ehepaar lebt in einer Sozialwohnung zur Miete, sie gehen beide putzen und ihre Kinder haben mittlerweile eigene Familien. „Zu Hause“ besitzen sie noch ein Haus, um das sie sich, natürlich aus der Ferne, auch kümmern: Im Alter könnten sie ja wieder zurückgehen, in Deutschland können sie sich das Leben kaum leisten, klammert sich besonders Tam an diesen Gedanken fest. Bay würde zwar auch gerne mal wieder zurück, aber nur für ein paar Monate – immerhin sind sie in Deutschland krankenversichert und ihre Kinder leben hier: Sie will für ihre Enkelkinder da sein. Auch im Alter.

So werden traditionelle Riten mit moderner Technik versucht, aufrecht zu halten und intime Lebenssituationen wie auch Beerdigungen mit der Kamera stetig begleitet, um die Entfernten daran teilhaben zu lassen. Die Illusion der Nähe, welche mit solchen Verbindungen aufgebaut wird, lässt die Einsamkeit noch tiefgehender erscheinen, wenn das Internet mal ausfällt oder sie am Ende des Tages alleine im Dunkeln auf dem Balkon sitzen. Selbst Gesellschaft und Freunde suchen die beiden im Internet: beim Online-Karaoke.


Filmbild aus Mein Vietnam ©Thi Hien Mai und Tim Ellrich | Deutschland, 2020
Filmbild aus Mein Vietnam ©Thi Hien Mai und Tim Ellrich | Deutschland, 2020

Fazit

In einer eigenen Blase leben, die man sich selbst erschafft – zeitlos und raumlos. Die Thematik des Films kann auf viele Lebensrealitäten der heutigen Gesellschaft übertragen werden: Durch die neuen Medien wird versucht, die Beziehungen stabil zu halten, welche, trotz Entfernung, immer noch essenziell notwendig für die eigenen Stimmungen sind. Zwischen den Rhythmen der Routine und den immer gleich verlaufenden Strukturen wie putzen und arbeiten, Deutsch lernen, sich um das Haus und die Familie kümmern, entfaltet der Film in dem Dazwischen eine Poesie des Repetitiven mit besonderem Charme, denn die stetigen Wiederholungen der Momente werden in ihrem Detailreichtum nicht langweilig: Immer sind es Räume, die emotional anders geprägt werden. Besonders in der Bewältigung des Alltags lässt die Darstellung viele Anknüpfpunkte für eine Identifikation mit den beiden liebenswerten Hauptcharakteren und deren lebensbedingten, charismatischen Eigenheiten. Dabei sollte der aufmerksame Zuschauer die subtilen Fragmente am Rande auch nicht übersehen, welche zusätzlich noch einen weiteren (bayrisch-geprägten) Raum als Positionsbestimmung öffnen.



Thi Hien Mai war nach ihrem Studium der Kunstgeschichte und der Kunstpädagogik für den chinesischen Künstler Ai Weiwei tätig und arbeitet interdisziplinär in den Bereichen Film und Kunst. Tim Ellrich schreibt sein Diplom an der Filmakademie Baden-Württemberg im Bereich »Szenische Regie«. »Mein Vietnam« lief bisher erfolgreich im Wettbewerb des Max-Ophüls-Preises Saarbrücken 2021, ebenso im Wettbewerb der regionalen Langfilme beim Lichter Filmfest Frankfurt International 2021 und beim DOK.fest München 2021.


© Tina Waldeck 2021