[ OASIS ]

Ivan Ikić | Serbia, 2020


Triggerwarnung

Alte schwarz-weiß Aufnahmen sind zu sehen und eine Männerstimme spricht mit Propagandastimme aus dem OFF. „Die seit ihrer Geburt Unglücklichen mit ihrer Unfähigkeit, ein Teil der Gesellschaft zu werden: Die moderne Welt hat schon immer für sie wenig Verständnis gezeigt. Heute akzeptieren die Leute dieses Familienmitglied wenigstens und ertränken sie nicht mehr im See …“ so weit der Sprecher. 

1969 wurde eine Einrichtung für beeinträchtigte Kinder und Jugendliche zwischen 5 und 25 Jahren in der Nähe von Belgrad eröffnet: Für solche, die nicht in der Lage sind, die Sonderschule zu besuchen. Die Kamera fährt über die Anlage und zeigt die Schlafsäle, wo die Kinder versuchen, Betten neu zu beziehen und Strukturen zu lernen, mit denen sie sich unabhängig fühlen sollen, ohne dabei unabhängig zu sein. Die Pflegekräfte sind rund um die Uhr um sie herum. Ordnungssysteme, in denen man Menschen hinein formt, damit sie einer gewünschten Norm einigermaßen entsprechen.

Hier setzt der Spielfilm mit farbenfrohem Bild ein. 

Durch das Tor der Anlage fährt ein Auto und man sieht im Inneren durch den Rückspiegel das Gesicht eines Mädchens mit kurzen, schwarzen Haaren. Herbe Gesichtszüge mit einem zusammengekauerten Körper. Sie starrt hinaus und atmet schwer. Abgehakt spricht sie, dass sie eine Toilette braucht und wiederholt diese Worte mehrmals. Als das Auto hält und sie in eine hineingelassen wird, rennt sie von dort so schnell sie kann in ein Feld hinein und läuft so lange, bis sie an einen Maschendrahtzaun kommt. Ein Tor öffnet sich: Es ist das gleiche wie zu Beginn. Die Pflegerin, die sie hergebracht hat, kommt auf sie zu. Sie bekommt Handtücher in die Hand gedrückt, wird in die Anlage hinein geschoben und den anderen vorgestellt: Maria ist neu hier. Alle in dem Zimmer begrüßen sie. Als sie sich auf eines der Betten setzt, wird ihr gesagt, das sie hier nicht schlafen darf. Warum nicht? Weil die Pflegerin das so sagt. Sie muss ein anderes nehmen. Mag sie ihr neues Zuhause? Nein, sie will zurück in ihr Altes. Maria legt die Hände vor das Gesicht. 

Nachvollziehbare menschliche Regungen, die kein Gehör finden oder finden dürfen. 

Traurig liegt sie auf dem Bett. Ein Mädchen flüstert ihren Namen und das Bett knistert, als Dragana zu ihr klettert. Schnell freundet die Beiden sich an. In der Kantine am nächsten Tag stellt sie ihr Robert vor. Er arbeitet hier, spricht mit niemandem und hat Dragana gezeigt, wie sie ihre Handgelenke ritzt. Das Mädchen schwärmt für ihn. Auch Maria interessiert sich für ihn. Als die beiden allein sind, zeigt sie ihm ihre eigenen Schnitte am Handgelenk. Das normale altersentsprechende Bedürfnis nach Verbundenheit, Verständnis und Nähe mit einem anderen Hintergrund und einer viel tieferen Schwere.


Filmbild aus Oasis ©Ivan Ikić | Serbia 2020
Filmbild aus Oasis ©Ivan Ikić | Serbia 2020
Filmbild aus Oasis ©Ivan Ikić | Serbia 2020
Filmbild aus Oasis ©Ivan Ikić | Serbia 2020

Liebe zwischen Jugendlichen ist an sich schon ein kompliziertes Thema, aber hier mit dem Schwerpunkt auf die Beeinträchtigungen noch brisanter. Robert und Maria als „andere“ Romeo und Julia und mit Gefühlen, die trotz des niedrigeren IQs genauso zu funktionieren scheinen wie bei „normalen“ Menschen, aber offensichtlich nicht so funktionieren dürfen: Denn die Pfleger in der Anstalt versuchen, als sie es unvermutet herausfinden, alles, um die beiden von dieser Beziehung zu trennen, die ihnen nicht gut erscheint, – egal, ob es für die beiden tatsächlich gut wäre oder nicht. Dabei kommen innerhalb des Films immer noch weitere Tabuthemen ans Licht.

Fazit

Der Film inszeniert einfühlsam Menschen mit anderen Wahrnehmungen: Aufnahmen, die auch so manches Mal unbequem sind und sowohl die Figuren als auch den Zuschauern schmerzen. Besonders, wenn es tatsächlich wie im Sinne von Romeo und Julia zu einem blutigeren Showdown – auch zwischen den ehemaligen Freundinnen und bald Rivalinnen – kommt. Oft werden subtile Analogien zu den emotionalen Zuständen inszeniert: Das Schleudern der Waschmaschine wird immer lauter. Wasser klatscht an die Scheibe. Es rüttelt und bebt. Die Wäsche wird immer widerstandsloser, hört schließlich nach einem letzten aufbäumen auf zu schlagen und fällt auf den Boden der Maschine, während sich Dragana in der Scheibe spiegelt. Viele solcher kleinen Fragmente lassen einen großen Deutungsspielraum. Die Schmerzen als das Fühlen von Empfindungen: das Fühlen von irgendetwas, wenn man schon seiner eigenständigen Ausrichtung beraubt ist. Besonders erwähnenswert ist es dabei, dass die Figuren im Film von Laienschauspieler mit wirklichen Beeinträchtigungen gespielt werden. Mit vielen feinen Nuancen lohnt sich der Film besonders für die Cineasten, die die Augen vor tief greifenden Themen nicht verschließen.



Oasis lief im Online-Programm des Film-Festivals Cottbus – Festival des osteuropäischen Films, 2020 und konnte hier den FIPRESCI-Preis der internationalen Filmkritiker- und Filmjournalisten-Vereinigung ( Fédération Internationale de la Presse Cinématographique) für sich gewinnen.


© Tina Waldeck 2020