[ Paris Calligrammes ]
Ulrike Ottinger | Deutschland, Frankreich 2019
Heimatliche Gefilde in der fremden Chaussée
Mit Victor Segalens Buch Stelen und einer mit Eulen bemalten Isetta begibt sich Ulrike Ottinger auf ihre filmische Reise: Biografischen Erzählungen, denen sie mit ihrer Stimme Charakter verleiht, unterlegt sie mit schwarz-weißen und farbenfrohen Aufnahmen aus privaten und öffentlichen Archiven und gibt damit besonders in der ersten Hälfte schon fast intime Eindrücke, wie sie sich als Anfang 20-Jährige auf die Reise aus der südländischen Kleinstadt hinaus nach Paris macht, um hier Künstlerin zu werden.
Schnell rückt dort angekommen (wenn auch ohne Isetta), das für den Film namens-gebende deutsche Antiquariat Librairie Calligrammes in den Fokus, wo sie Anregungen, Inspirationen und einen väterlichen Freund findet. Der Besitzer ist der deutsch-jüdische Fritz Picard, welcher früher lange für den Berliner Verlag Bruno Cassirer gearbeitet hatte, bevor er seine Heimat bedingt durch den Nationalsozialismus verlassen musste und auf seiner Flucht nach Paris kam, wo er sich 1951 schließlich den kleinen Laden in Saint-Germain-des-Prés mieten konnte. Die charmante Lokalität wird in den folgenden Jahren Treffpunkt aller deutsch-jüdischen sowie politischen Immigranten, Intellektuellen und Literaten werden. Die meisten seiner Bücher, die er in seinen Bestand aufnimmt, wird er in Paris in den nächsten Jahren auf der Straße finden: von jüdischen Immigranten zurückgelassen. Er wird ein gern gesehener Gast und Gesprächspartner auf vielen Veranstaltungen und alle prominente Besucher verewigen sich bei ihm in seinem Gästebuch. Ein Buch, das diesmal Ottinger lange suchen und rechtzeitig zum Dreh in einem Auktionshaus finden wird. Sorgsam und bedacht blättert sie Seite um Seite mit den wertvollen Unterschriften und persönlichen Widmungen um. Darunter: auch ein Fragment vor ihr.
Zu der Zeit lernt sie im Atelier von Johnny Friedländer Radiertechniken. Er ist ein exzellenter Lehrer, nicht nur für sie. Viele junge Künstler*innen treffen sich hier in der geräumigen Halle mit großen Pressen und Ateliertischen. Kubaner*innen, Japaner*innen, Italiener*innen – die Studenten kommen von überall her. Oft kommen auch Wohltäter*innen zu Besuch, die die Mittellosen unterstützen. Die Umstände sind ungemütlich: Selbst in Hotels haben die Zimmer in Paris zu dieser Zeit kein warmes Wasser oder Heizung. So ging man zum Arbeiten in die warmen Cafés. Kein Kellner hätte es gewagt, die Intellektuellen und Künstler hinauszuwerfen, die hier den ganzen Tag bei nur einem Kaffee saßen. Ein Jahr lang rollt sie jeden Abend ihre Luftmatratze zum Schlafen bei einem Freund aus. Ihre Freunde: viele Soldaten, links gerichtet, die nichts so sehr verabscheuen, als in den algerischen Krieg ziehen zu müssen. Im Oktober 1961 wurde in den algerischen Elendsvierteln zu einer friedlichen Demonstration aufgerufen: Für bessere Wohnverhältnisse und das Aufheben der Ausgangssperre, die nur für Algerier galt. Die Polizei ging mit unvorstellbarer Gewalt vor. Viele wurden niedergeschlagen oder erschossen. Der Kolonialismus, ein brisantes Thema. Ein Mantel des Schweigens danach: Selbst die kritischen Zeitungen berichteten nicht. Dafür diskutiert die Intellektuellen- und Kunst-Szene umso mehr. Dazwischen lernt sie in den amerikanischen Galerien Andy Warhol und R.B. Kitaj kennen, die sie stark beeinflussen. Ihre eigenen Aktionen, die sie bei Ausstellungen zeigt, sind trotzdem noch ein Schock für die konservative französische Kunstwelt. Aber sie wird nach und nach ein fester Bestandteil der Künstlerszenen und es wird selbstverständlich das man sich in den Ateliers gegenseitig besucht. Gemeinsame Abende zwischen Humor, Groteske, Ernsthaftigkeit und Anarchie.
Sie findet schließlich eine kleine Dachwohnung von welcher sie nicht nur einen Blick auf die politischen Unruhen auf den Straßen, sondern auch auf die Programmkinos um die Ecke hat: Hier wird das La Cinémathèque française 1963 feierlich eröffnet und sie bekommt Einführungen in die Filmgeschichte mit Sergei Eisenstein bis zum deutschen expressionistischen Film. Sie trifft Henri Langlois, den Leiter der Cinémathèque française und begeisterten Filmarchivar. Hier entdeckt sie diese Welt für sich: Alles, was sie interessiert, kann sie hier flexibel, experimentell und künstlerisch anspruchsvoll zusammen bringen. Öffentliches und Privates. Politisches und Poetisches. In ihrem ersten Film lässt sie sogleich ihr Atelier mit den sich darin befindenden alten Kunstwerken niederbrennen. Radikaler Abschluss mit der Vergangenheit und Aufbruchstimmung.
Fazit
Ulrike Ottinger verwebt Archivmaterial mit fotografischen Aufnahmen: Ihre Erinnerungen kombinieren und erweitern sich mit der historischen Geschichte, und sie verknüpft die Momente aus der Vergangenheit immer wieder mit Spaziergängen durch die Gegenwart. Gerade im Mittelteil schlägt der Film von ihrer persönlichen Biografie ins dokumentarische um, in Momenten, wo sie sich selbst stark zurücknimmt und die Kolonialgeschichte wirken lässt: lange, ruhige Einstellungen auf historische Gebäude und Menschen mit traditionellen Gesängen, die symbolisch für sich stehen und sprechen. Schon früh interessiert sich Ulrike Ottinger für Ethnologie. Kein menschlich prägendes Ereignis möchte man in diesen turbulenten Jahren auslassen und auch keine Ecke von Paris spart sie aus: Der Louvre ist präsent, genauso wie die Nationalbibliothek Frankreichs mit dem Salle Ovale von Jean-Louis Pascal. Die vielen Jazzkeller werden angesprochen und auch die Musikauswahl im Film ist davon gezeichnet: Charles Aznavour, ein Armenier. Chansons von Barbara, einer jüdischen Sängerin. So sind die bestehenden Umstände, welche sie als Rahmen vorgegeben hat, weiter subtil präsent. Zwischen Poesie, Schabernack und Ästhetik des Schreckens: die Kubakrise, der Vietnamkrieg, die Kulturrevolution in China. 1968 dann: Make Love Not War. Aus ihrem Dachfenster kann sie auf der Straße unter sich alle Märsche aus nächster Nähe beobachten. Das ständige Tränengas veranlasst sie, die Fenster abzudichten. Aufarbeitung ihrer persönlichen Vergangenheit im Film, im stetigen Kontext mit den gesellschaftlichen, prägenden Umbrüchen, – von denen man sogar als Zuschauer in ihrer vermittelnden Nähe ein Teil wird und im besten Fall intellektuell darüber nachdenken kann. Ein wunderbares, mit Persönlichkeit aufgeladenes Zeitdokument.
Paris Calligrammes hatte seine Weltpremiere auf der Berlinale 2020 – in diesem Rahmen bekam Ulrike Ottinger auch die Berlinale Kamera als herausragende Filmschaffende für ihr Gesamtwerk verliehen. Danach lief der Film im Online-Programm des Kasseler Dokumentarfilm- und Videofest 2020, wo er von der Autorin gesichtet wurde. Als Premiere in den Niederlanden wird er folgend auch auf dem International Documentary Film Festival Amsterdam (IDFA) 2020 zu sehen sein: Ein Blick lohnt sich für jeden Kulturinteressierten auch später – dans les cinémas!
© Tina Waldeck 2020