[ Persischstunden ]

Vadim Perelman | Deutschland, Russland 2020


Im Rahmen der Jüdischen Filmtage fand im Cinéma Frankfurt am Main der langersehnte und durch Corona verzögerten Kinostart von Persischstunden (Persian Lessons) statt. Eigentlich war nach der Weltpremiere auf der Berlinale 2020 als Kino-Premiere der 07. Mai angestrebt, in Bezug zum 08. Mai – dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Doch es sollte anders kommen. Marc Grünbaum - Kulturdezernent der Jüdischen Gemeinde - bedankt sich für die Einladung und die gute Zusammenarbeit mit dem Arthouse Kino: Das Jüdische Filmfestival in Berlin & Brandenburg spielt nur online dieses Jahr, so ist man dankbar, das man hier, wenn auch im kleineren Rahmen, anwesend sein darf. Der erfolgreiche und mehrfach ausgezeichnete Produzent Sol Bondy, unter anderem Mitglied der European Film Academy und ein Teil von One Two Films, die den hauptsächlich in Russland produzierten Film im deutschsprachigen Raum mit-produziert haben, ist zu Gast. Die wenigsten in Deutschland hätten sich getraut, diesen Film zu machen, da ist er sich sicher. Hier hat man mehr Respekt vor dem Thema. Aber ihre Firma bekommt viele Stoffe über den Holocaust aktuell angeboten, chutzpah! Es fallen Vergleiche und Anlehnungen von diesem Film zu Am Tag, als der Clown weinte (Le jour où le clown pleura) von Jerry Lewis und Das Leben ist schön (La vita è bella) von Roberto Benigni. Das komödiantische im Angesicht des Grauens. Es gibt viele Geschichten aus dieser Zeit, die sich oft ähnlich sind. Letztendlich hat der russische Regisseur, und Sohn jüdischer Eltern, Vadim Perelman die Rechte an der Novelle „Erfindung einer Sprache“ von Wolfgang Kohlhaase aus dem Jahr 2005 erworben und umgesetzt.


Sie sind nur Namenlos, wenn du ihre Namen nicht kennst …

Filmbild aus Persischstunden ©Vadim Perelman
Filmbild aus Persischstunden ©Vadim Perelman

Ein Mann stapft im Nebel an den Schienen entlang, auf die Kamera zu und durch sie hindurch. Ein Laster fährt 1942 durch den Wald. Dicht aneinandergereiht unterhalten sich die Menschen darin, und einer versucht eine seltene Erstausgabe gegen ein Stück Brot dem Mann zu verkaufen, der vorher an den Gleisen entlang stapfte. Gilles zuckt mit den Schultern und ist eigentlich nicht interessiert. „Es ist ein persisches Buch, eine Seltenheit!“ Er nimmt es schließlich doch und gibt dem Hungrigen ein Stück Brot ab, in das dieser gierig hinein beißt. „Aussteigen!“, brüllen da die Soldaten. Schon beim Abladen werden die Ersten erschossen. Angstvoll drängen sie sich aneinander. Da fallen die nächsten: „Schaut nicht so blöd!“ Gilles lässt sich fallen und tut so, als wäre er getroffen, doch seine Täuschung wird erkannt. Er geht auf die Knie. „Ich bin kein Jude, ich bin ein Perser“, schreit er und reckt das Buch als Beleg in die Höhe. Moment, nicht schießen: Die Kantine und der Koch suchen doch einen Perser? Die Soldaten reiben sich die Hände in Aussicht auf eine saftige Belohnung. Er wird abgeführt, während die Kamera über die Leichen hinweg fährt, die vor einem ruhig liegenden See zurückgelassen werden.

Sie fahren in das Lager »Jedem das Seine«, wo sich der Herr Hauptsturmführer Klaus Koch vor Wut stotternd über die unsauberen Buchstaben in der Buchhaltung von Soldaten Fräulein Strumpf aufregt. Zu unordentlich, ja fast schon unleserlich! Er entlässt die Frau, die sich angstvoll aus dem Zimmer hinaus und an den Soldaten vorbeidrückt. Diese zögern, bevor sie klopfen. „Herein!“ „Wir bitten um Erlaubnis hereinkommen zu dürfen!“ „Ich sagte doch herein, ich sagte nicht, bleiben sie zwischen Tür und Angel stehen!“ werden sie angeschnauzt. (Das erste zögerliche Lachen aus dem Publikum). Der Mann wird vorgeschoben. Ein Perser! Ein Echter? Das Buch wird vorgezeigt, darin findet der Hauptsturmführer eine Signatur. „Also Reza heißt du“, schlussfolgert Koch und Gilles nickt schnell. Ab morgen soll er in der Küche helfen und dem Hauptsturmführer danach jeden Tag Farsi beibringen. Nach dem Krieg will dieser nach Teheran und dort ein deutsches Restaurant eröffnen. Der neue Gefangene wird aus dem Raum, in einen anderen Raum geschoben. Hygiene ist wichtig! Hände waschen nicht vergessen. (Das zweite zögernde Lachen.) Der neu-benannte Gilles/Reza wäscht nervös die Teller ab. Er braucht dringend neue Wörter und versucht, sich etwas auszudenken: Was könnte Messer, Gabel, Brot auf Farsi heißen?


Filmbild aus Persischstunden ©Vadim Perelman
Filmbild aus Persischstunden ©Vadim Perelman
Filmbild aus Persischstunden ©Vadim Perelman
Filmbild aus Persischstunden ©Vadim Perelman

Noch liegt Misstrauen in der Luft. Er soll nicht denken, dass er Koch verarschen kann. Was heißt Schwein? Die beiden sehen sich lange an. „Schwein?“ „Ja, Schwein.“ Wieder schweigen. Großaufnahmen. „Schwein – Fa“, sagt Gilles/Reza Klaus Koch ins Gesicht. (Und ein nicht mehr ganz so zögerliche Lachen erklingt aus dem Publikum). Immer mehr freundet sich Koch mit dem erfundenen Bild von Persien an, das Gilles/Reza ihm vermittelt. Er beschließt, dass der Perser die Aufgabe von Soldaten Fräulein Strumpf in der Buchhaltung übernehmen soll. Die Listen der Menschen, die eingeliefert werden, müssen ordentlich sein! Alles muss seine Ordnung haben! Endlich bekommt Gilles/Reza einen Stift und muss sich die ausgedachten Worte nicht mehr im Kopf merken. Er macht die Lampe an und schreibt. Als er die Tinte trocken pustet, verrutscht das Lineal. Die Kamera fährt näher. Er beschließt, aus jedem Namen in der Liste ein Wort zu bilden. Er nimmt immer die ersten Buchstaben. Und erfindet seine eigene Geheimsprache: Scheiße – Ard. (Ein weiteres Lachen.)

Fazit

Der Leidensweg von Gilles/Reza geht von nun an erst richtig los: Von der Küche landet er im Steinbruch und schließlich doch wieder in den Baracken; auf Fluchtversuch folgt Versteckungsmanöver, während das Lager sich erst leert, um sich danach wieder mit neuen Gefangenen zu füllen. Und wenn Koch glücklich ein Gedicht in der ausgedachten Sprache über den Frieden spricht, werden die ehemaligen Gefangenen in Polen verbrannt. Hass und Aggression auf der einen, Überlebenskampf und Erschöpfung auf der anderen Seite. Zwischen Gilles/Reza und Klaus Koch bröckeln die Grenzen und es zeigen sich Zwischenmenschliche, ja fast freundschaftliche Töne, die ein absurdes komödiantisches Gesicht bekommen, da der Hauptsturmführer sowohl die Verantwortung an der Situation als auch das Leid der Gefangenen komplett ausblendet. Er selbst hat doch niemanden umgebracht. Er ist ein Menschenfreund und die, die sich gut mit ihm stellen, bekommen Fleischkonserven oder seine abgelegte Kleidung. Ansonsten werden die Verpflichtungen getragen, wie eine Uniform, die man morgens an- und abends wieder auszieht. 

Dabei ist das Spiel mit den Wörtern und den Namen ein besonderes Highlight, wodurch der Film einen poetischen Ansatz bekommt: In der fremden Sprache erträumt sich Koch ein anderes Leben und öffnet sich mehr als in seiner Sprache, die auch nur einer Inszenierung dient. Als wer möchte man in einem System angesehen werden? Immer wieder zeigt die Kamera den Blick in Spiegelbilder. In dem Traum von Persien ist noch jede Inszenierung und damit auch Positionierung offen. Bei Gilles/Reza ermöglicht das ausgedachte Farsi dagegen eine Distanzierung und einen Abstand zu der augenblicklichen, unerträglicheren Situation in den Baracken zwischen Schmerz, Elend und Hunger – schon allein in der Annahme eines anderen Namens, einer anderen Identität, die einem den Schutz bietet, den man sonst nirgendwo sonst in der Umgebung findet. Und doch ist er mit dem panischen Einprägen aller Namen der Gefangenen aus dem Lager der Realität – den Menschen – näher als alle anderen. So findet der Film einen inhaltlich sehr gelungenen Weg zwischen dem Mensch-sein, dem Was-will-ich-eigentlich-sein und einem Das-bin-ich, wenn die Masken am Ende bröckeln.

Persischstunden (Persian Lessons) erreicht zwar weder die bedrückende Atmosphäre und den inhaltlichen Tiefgang von Schindler´s Liste (Schindler's List), noch die doch schwungvollere Leichtigkeit von Das Leben ist schön (La vita è bella), aber er reiht sich doch problemlos auf seine eigene Art zwischen diesen Vorbildern ein – wozu auch wesentlich das außergewöhnliche Spiel der beiden grandiosen Hauptcharaktere Nahuel Pérez Biscayart als Gilles/Reza und Lars Eidinger als Klaus Koch, in ihrem gelungenen Kontrast aufeinander, beiträgt.


Filmbild aus Persischstunden ©Vadim Perelman
Filmbild aus Persischstunden ©Vadim Perelman

© Tina Waldeck 2020