[ Schwesterlein ]
Stéphanie Chuat und Véronique Reymond | Schweiz 2020
Es waren zwei Königskinder ...
Aus der Kanüle rinnt Blut. Verschwommener Blick. Als subjektive Wahrnehmung erklingt "Brüderlein und Schwesterlein" aus der Fledermaus über die Kopfhörer, bevor die Schwester ihrem Zwillingsbruder die Hand auf die Schultern legt. Eilig packen die beiden seine Kleidung zusammen und verlassen das Krankenhaus. Er trägt theatralisch eine eigenwillige, blonde Perücke. Im Taxi legt Sven vertrauensvoll seinen Kopf auf Lisas Schultern und sie trägt auch diese zusätzliche Last. Die beiden Künstlerkinder. Sie war mal eine Theater-Drehbuch-Autorin. Er der Schauspieler.
Die beiden erreichen ihre Mutter, und erreichen sie doch nicht: Sie lebt in ihrer eigenen Welt und versucht, die Krebserkrankung ihres Sohnes auszublenden. Viele Diskussionen. Sturheit. Kein emotionaler Rückhalt. Sie will und kann sich nicht um ihn kümmern. Sven klebt sich ein Post-it mit dem Wort "Einsamkeit" auf die Stirn. Da nimmt die Schwester ihn mit zu sich, von Berlin in die Schweiz. Die Kinder der Schwester fragen verwundert, wer der Mann ist – bevor sie Onkel Sven unter seiner Perücke erkennen. Das Lachen und Spielen mit ihm vertreibt die Fremdheit. Er arbeitet darauf hin, wieder arbeiten zu können. Wieder auf der Bühne zu stehen.
Sie fahren nach Berlin zurück ins Theater. Er spricht am Rande die Worte mit und setzt sich (s)eine Krone auf. Kannst du spielen? fragt der Intendant. Er möchte – aber er kann nicht. Da wird Hamlet abgesetzt. Tränen unter seiner Perücke. Er tauscht sie von blond zu blau, läuft weg und versucht, allem zu entfliehen. Blowjob auf der Toilette. Exzessives Tanzen. Alkohol. Noch einmal das Leben fühlen. Mit seinem Schwager zusammen macht er einen Gleitschirmflug. Auch hier: der theatralische Absturz von Sven. Er hängt in den Seilen, er windet sich, er kollabiert. Im Krankenhaus wird festgestellt, dass die Knochenmarkstransplantation doch nicht gelungen ist: Er soll eine neue Chemo bekommen.
Unterdessen erfährt die Schwester von einer beruflichen Vertragsverlängerung ihres Mannes in der Schweiz. Für sie entsetzlich: Sie wollte doch zurück nach Berlin. Zurück in die Heimat. Nach Hause. Es kommt zum Streit. Ohne ihre Absprache hat er unterschrieben, während sie Tag und Nacht bei Sven im Krankenhaus war. Auf eigenes Risiko verlassen ihr Bruder und sie erneut das Krankenhaus. Irgendwann sitzt Gretel alleine und schweigend an einen Baum gelehnt, während Hänsel vom Fenster zu ihr hinunter morst und ihr den Weg zu sich zeigt.
Fazit
Der Film glänzt durchgehend mit schönen Ideen, Gedankengänge und Assoziationsketten. Hänsel und Gretel allein im Kampf gegen die Hexe Krebs und auf der Suche nach ihrem Zuhause. Die beiden Hauptfiguren: Es sind Hedonisten in großen Wohnräumen, reich und versorgt, Künstler, die sich ausleben können, eine weiße Luxusgesellschaft, die innerhalb der Gesellschaft kaum Probleme hat und daher nicht so recht weiß, wie sie nun die Probleme verarbeiten soll. Sie wollen ja nur spielen. Spielen bis zum Schluss. Dabei ist die Figur Sven/ Lars Eidinger sowohl eine Freude, als auch ein Problem. Was absichtlich als Wechsel zwischen Realität und Fiktion, eben als ein Spiel im Spiel mit seinem tatsächlichen Leben (ohne Krebs), inszeniert ist (das Theater, die Schaubühne, sein Hamlet), haftet sich auch im Publikum fest und lässt dieses nicht so wirklich in die Figur Sven eintauchen und mitfühlen, denn man lacht über die Eskapaden des Lars Eidinger. Die Mischung zwischen Realität und Fiktion. Zwar beabsichtigt und doch, man weiß: Sven wird nach dem Film aufstehen und unbeschadet weiterspielen – intensiv einfühlen kann man sich nicht. So bleibt die emotionale Ebene auch nur wie eine Perücke: zum eben mal auf- und später dann wieder absetzen. Dabei hält Nina Hoss als Lisa sie beim Kotzen liebevoll fest, damit sie nicht ganz verrutscht – und ist damit auch als Hauptfigur in ihrer bescheidenen und zurückgezogenen Selbstfindungsphase dem Film eine große Stütze.
© Tina Waldeck 2020