[ The Earth is blue as an Orange ]

Iryna Tsilyk | Ukraine, Litauen 2020


Wir sind alle menschlich, wissen sie?

Eine Frau im mittleren Alter sitzt auf dem Boden und schneidet Klebeband zu, mit welchem später X-Markierungen geklebt werden. Ein schwarzes Tuch wird an die Wand montiert, ein Stuhl und ein Scheinwerfer davor positioniert. Ein Junge setzt sich in die Inszenierung. Szene 1, bitte! Langes Schweigen. Emotionale Gefühlsregungen auf seinem Gesicht. Trauer, Hilflosigkeit, Überforderungen. Er schaut die Frau hinter der Kamera gequält an, dann nach unten. Cut.


Filmbild aus The Earth is blue as an Orange ©Iryna Tsilyk | Ukraine, Litauen 2020
Filmbild aus The Earth is blue as an Orange ©Iryna Tsilyk | Ukraine, Litauen 2020
Filmbild aus The Earth is blue as an Orange ©Iryna Tsilyk | Ukraine, Litauen 2020
Filmbild aus The Earth is blue as an Orange ©Iryna Tsilyk | Ukraine, Litauen 2020

Hanna ist Mutter von vier Kindern, von denen die ältesten Beiden, Miroslava und Nastya, in einem Sommercamp einen Film drehen durften. Beide beschlossen die Familiengeschichte zu erzählen, – und wurden dabei von Iryna Tsilyk, als professionellen Regisseurin, begleitet, die diese Dreharbeiten, speziell aber auch die Geschichte der Familie, die in der vordersten Kriegszone von Donbas in der Ukraine wohnt, ebenfalls dokumentierte. Ein Film im Film. Wie prägt die Situation die Emotionen und generell das Aufwachsen der Kinder?

Surreal anmutende Alltagsszenen im Kriegsszenario

Die Schwester scherzt, dass sie erst noch versuchen muss, so tragisch auszusehen wie ihr Bruder. Wohin soll sie schauen? Als die Klappe zusammenschlägt, tönt ein lauter Knall, der auch den Zuschauer zusammenschrecken lässt. Cut. Keine Angst, jetzt ist es vorbei. Die Mutter sitzt mit den jüngeren Kindern eingekuschelt in eine Decke, bevor sie mit einer Taschenlampe nach draußen geht und die Schäden am Haus begutachtet. Auch andere Nachbarn kommen dazu und stapfen durch die Ziegelsteine. Soldaten gehen vorbei. „Alles in Ordnung?“ Alle noch am Leben. Aber nein, in Ordnung ist es nicht… Klaviertöne erklingen wild und laut. Eine Tochter sitzt am Keyboard, der jüngste Sohn am Akkordeon. Die gehobenere Mittelklasse, die in Schutt lebt. Die Mutter bügelt, räumt auf und hackt Holz. Später schaut sich Hanna am Laptop alte Kinderfotos an und erzählt, dass sie sie alleine aufziehen musste. Ihr Mann emigrierte nach Kanada und war danach verschwunden. Eine ältere Frau nickt zu ihren Worten, während Hanna bekümmert den Kopf auf die Handfläche stützt. Vielen geht es hier so: Wer gehen kann, der geht, und immer sind es die Mütter, die wegen der Kinder bleiben und versuchen müssen, das Beste aus allem zu machen. Die lernen müssen, auch mit dem emotionalen Schutt umzugehen.

Ein Leben mit der täglichen Lebensgefährdung. Wieder sitzt die kleine Familie im Halbdunkeln eng beieinander vor dem Fernseher. Sie fühlen sich wie Juden, die sich verstecken. Ja, so war das damals. Das Mädchen soll still sein. Lachen ist jetzt unpassend. Sie besprechen die weiteren Film-Szenen. Wie inszeniert man den Schrecken? Die beiden kleinen Jungen kuscheln sich wieder an die Mama und legen die Hände an die Ohren. Alle Schauspieler fertig? Und Action. Das Licht erlöscht. „Mama, ich habe Angst“, jammert der Jüngste. „Keine Angst, wir machen die Kerze gleich wieder an.“


Filmbild aus The Earth is blue as an Orange ©Iryna Tsilyk | Ukraine, Litauen 2020
Filmbild aus The Earth is blue as an Orange ©Iryna Tsilyk | Ukraine, Litauen 2020
Filmbild aus The Earth is blue as an Orange ©Iryna Tsilyk | Ukraine, Litauen 2020
Filmbild aus The Earth is blue as an Orange ©Iryna Tsilyk | Ukraine, Litauen 2020

Die Herausforderung von Dokumentarfilmer*innen ist es, die realen Menschen zu zeigen und trotzdem einen spannenden roten Faden zu erarbeiten. Sich offen und flexibel sich auf die Situationen einzulassen und dabei aber auch vorsichtig und bedacht bleiben: Wie in einem Minenfeld, auf dem man auch falsche Schritte machen kann, denn es ist das Leben der anderen Menschen, in das man mehr oder weniger eingreift, – so wird Iryna Tsilyk in der Fragerunde des Internationalen Dokumentarfilm-Festival Amsterdam erzählen. Ursprünglich war nur ein Jahr an Dreharbeiten geplant gewesen, doch am Ende waren es 2 1/2 Jahre, in denen sie die Familie begleitete und sich dabei eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelte. So bleibt der Film nicht nur innerhalb des »Film im Film« Gedankens verhaftet, sondern folgt auch den Vorbereitungen für den Schulabschluss von Miroslava und ihrem Versuch, es bis an die Universität zu schaffen, um dort selbst Regie zu studieren – Tränen, Angst und Geld-Sorgen inklusive. Oft bleibt in den Szenen dabei der Blick bei Mama Hanna, mit ihrer charismatischen Bodenständigkeit, die allen Kindern immer stark und sicher – trotz aller Unsicherheit – zur Seite steht. 

Fazit

Der Film hat einen hohen Anspruch und dies nicht nur wegen der technischen Gestaltung mit dem Film im Film Gedanken oder aufgrund von Szenerien, die anmuten wie Gemälde: Die Regisseurin beweist besonders einen feinfühligen Blick für die zwischenmenschlichen Momente innerhalb der Familie, und so findet der Zuschauer schnell Zugang zu den liebenswerten Charakteren, die versuchen, mit den Geschehnissen in der Kriegszone so gut wie möglich „normal“ umzugehen. Damit hinterlässt der Film einen sehr sozialen und menschlichen Eindruck dieser Normalität, die zwar stetig von Bomben unterbrochen und stark begrenzt wird, wo aber zwischen der Angst jede Freude, jedes Lachen und jeder Gewinn grenzenlos ausgekostet wird.



»The Earth is blue as an Orange« lief im Online-Programm des International Documentary Filmfestival Amsterdam 2020 und konnte hier in der Kategorie „World Cinema – Documentary“ gewinnen. Die Europapremiere erfolgte bei den Internationalen Filmfestspielen Berlin 2020 im Programm der Generation 14plus.


© Tina Waldeck 2020