[1489]
Shoghakat Vardanyan | Armenien 2023
Der Krieg um die Republik Arzach (Nagorny Karabach) begann am 27. September 2020 mit dem Ziel einer „ethnischen Säuberung“: Bis Ende 2023 wurden mehr als 100.000 Armenier von ihrem Heimatland vertrieben. Während der Kämpfe verschwand auch der jüngere Bruder der Filmemacherin – ein Musikstudent – spurlos aus der Armee. So nahm seine Schwester die Handkamera, um die Ruhelosigkeit ihrer Eltern und sich selbst zu dokumentieren.
Poetisch-ungewisser Schmerz
Im Kampf um die armenische Selbstbestimmung sind all jene gesegnet, die für ihre nationale Freiheit sterben, erklärt der ältere Mann. Aber warum kann es nicht heißen: Gesegnet sind all jene, die dafür leben? Sein Sohn war ein guter Junge, aber dessen Gefühle und Denken könnten nun durch den Krieg beschädigt sein. Er könnte das Opfer von unzivilisierten Kommandeuren geworden sein. Er könnte … Frustriert beginnt der Mann auf und ab zu gehen. Das einzig konkrete ist: Sie wissen nicht, wo er ist und was passiert ist. Sein Handy ist aus, der Aufenthaltsort unbekannt.
Aufnahmen aus der Vergangenheit werden hineingeschnitten, als Gedankenkarussell der Gegenwart: Der junge Mann wird an die Front verabschiedet. Sein letzter Wunsch, am Neujahrsfest aufgeschrieben auf einem kleinen Zettel: „Möge ich als menschliches Wesen wachsen.“ Wunderbarer Schnitt in die Wirklichkeit hinein, wo die Nähmaschine wie ein Maschinengewehr rattert. Die Mutter arbeitet an Kissenbezügen für die Soldaten an der Front – Humanität, eingelegt in Verzweiflung. Immer wieder dringen Nachrichten aus den Medien zu ihnen, – auch, wie Nikol, der Premierminister von Armenien, einen Vertrag mit den beiden Präsidenten aus Russland und Aserbaidschan unterschreibt. Der Vater zieht sich pessimistisch die Bettdecke über den Kopf und versucht doch, für seine Familie Halt und Stütze zu sein.
FAZIT
Mit einfachsten Mitteln gedreht, hält der Film wunderbar authentisch die ungewisse Atmosphäre einer Menschlichkeit fest, die dem Schicksal – welches andere gewaltvoll aufdrücken – ausgeliefert ist. Zwischen den symbolischen und poetischen Momenten, z. B. wenn der Vater liebevoll einen Vogel aus seinem Atelier rettet und in die Freiheit entlässt, speist sich der Film ganz aus dem, was die raue Realität vorgibt – daher muss auch ganz klar, vor allem ab der zweiten Hälfte des Films, eine Triggerwarnung ausgesprochen werden. Die Filmemacherin raucht, weint und rasiert sich den Kopf – und bleibt dabei immer künstlerisch mutig und kampfbereit, um mit den Identitäten ihrer Familie auch ein Teil der armenischen Geschichte zu bewahren. Ein emotionaler Einblick auf jene Kämpfe, die in den westlichen Kulturen am Rande des medialen Blickfeldes fast unbeobachtet verlaufen, die aber in den Machenschaften und Verstrickungen bekannter Namen nicht ignoriert oder vergessen werden dürfen!
«1489» lief auf dem International Documentary Film Festival Amsterdam (IDFA) 2023, wo der Film sowohl den Award für den besten Dokumentarfilm als auch den Preis der FIPRESCI für sich gewinnen konnte. In Deutschland war der Film im Programm des goEast 2024 innerhalb des Wettbewerbs zu sehen.
© Tina Waldeck 2024