[Abschied von gestern]

Alexander Kluge | Westdeutschland 1966


Weiß auf schwarz erläutern die Texteinblendungen Zustände einer unbelegten Zukunft. Die Frau lacht dementsprechend, zitiert aus einem anderen Text und isst dabei. Vielleicht ›ist‹ sie auch dabei. Gediegener Schnitt in die Boheme, wo sie abseits der Masse alleine sitzt: Anita Grün ist 22 Jahre und zurzeit ohne festen Wohnsitz. Die Gerichtsverhandlung in Braunschweig wird über sie eröffnet, Vorwürfe rattern hinunter: Eine, „die herübergekommen ist“. Was ist ihr gegenwärtiger Plan?

Das Trauma des anwesenden Lebens

Nach der persönlichen Lebenserfahrung des Richters haben junge Menschen keine Angst, auch heute nicht. Eine Wolljacke hat sie einer Arbeitskollegin weggenommen: „Das war ganz gefühlsmäßig“, erklärt sie. Was meint eigentlich „in Gewahrsam nehmen“ genau? Die Bemühung, sie in die Gemeinschaft wieder aufzunehmen? Sie soll Gott danken, dass sie arbeiten darf. Ein Platz wird extra für sie freigeräumt. Immer lächeln zu den gut gemeinten Ratschlägen. Sie hat ja eine Ausbildung gemacht, da hat sie enorme Möglichkeiten für die Zukunft. 


Filmbild aus Abschied von gestern ©Alexander Kluge | Westdeutschland 1966
Filmbild aus Abschied von gestern ©Alexander Kluge | Westdeutschland 1966

Veränderungen: Nur neue Dystopien?

So tritt sie einen neuen Job an, um Schallplatten zu verkaufen, durchaus seriös. Der Chef lässt seine Brille auf das Bett fallen. Was ist da mit der Rothaarigen, fragt zu Hause seine Frau. Nichts. Sie wird wieder entlassen. Wohin gehen? Schnitt auf einen anderen Mann in Nahaufnahme: auch mit Augen, Mund und Kinn. Sie lächelt und schlägt die Augen nieder. Beide hören zusammen Musik, führen politische Diskussionen über die Vergangenheit, auch von Deutschland. Die Steine des alten jüdischen Friedhofs – wie haben sie den Krieg überstanden? Das Gericht tagt erneut.

„Liebes Fräulein Grün“, Ausnahmen gibt es hier keine. Vernünftig wäre es, ihr Zimmer aufzugeben und sich etwas zu suchen, was für eine wie sie auch bezahlbar ist. Wieder packt sie ihre Koffer. Wieder ein anderer Mann. „Sehen Sie, liebes Fräulein Grün“, sie haben doch die freie Wahl. Und es wird am Paternosteraufzug wie an Menschenwürde festgehalten. Erneut lächelt sie, im Versuch gefangen, sich etwas aufbauen zu müssen, – und bekennt sich schuldig.


Verlinkung zur MUBI – Trailer Abschied von gestern ©Alexander Kluge | Westdeutschland 1966
Verlinkung zur MUBI – Trailer Abschied von gestern ©Alexander Kluge | Westdeutschland 1966

FAZIT

Alexander Kluges Spielfilmdebüt – und einer der ersten Spielfilme nach dem Oberhausener Manifest – bringt Blicke auf die Umschwünge von einst und hilft, bei den Umschwüngen unserer Zeit genau hinzublicken. Dies zeigt schon der erste Satz: „Uns trennt von gestern kein Abgrund, sondern die veränderte Lage.“ Die deutsche Ost-Jüdin auf Wanderschaft wirkt angepasst, aber trotzdem neben der Gesellschaft und neben sich stehend, in ihren Abhängigkeiten zu allen anderen. Oft zum Mann. Oft zur älteren Generation. Ein Film mit einem Gespür für die skurrilen, die hoffnungslosen und doch auch manchmal spielerischen Momente in einer Integration von Menschen im Zwischenraum.


«Abschied von gestern» lief auf dem Internationalen Filmfestival Venedig 1966 und wurde dort mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet.


© Tina Waldeck 2023