[Melting Ink]

Dominik Graf, Felix von Boehm | Deutschland 2023


Der Autor der Buchvorlage „Jeder schreibt für sich allein“ führt die Zuschauenden auch durch den Film, – mit dem „Blick auf eine Katastrophe.“ Er selbst hat eine tief verwurzelte Familienhistorie, die den Epen von Thomas Mann Konkurrenz machen könnten: Anatol Regniers Frau war Nechama Hendel, eine jüdische Sängerin. Seine Großmutter Tilly Wedekind, eine deutsche Schauspielerin, welche mit dem 22 Jahre älteren Schriftsteller Frank Wedekind verheiratet war. Nach dessen Tod verband sie eine lange Beziehung zu Gottfried Benn – auch dieser wird in dem Film (s)eine Rolle spielen. Und alle kreative Arbeit wird immer im Schatten der Ideologie stehen.


Filmbild aus Melting Ink ©Dominik Graf, Felix von Boehm | Deutschland 2023
Filmbild aus Melting Ink ©Dominik Graf, Felix von Boehm | Deutschland 2023

Ein Gang in die Archive der Vergangenheit hinein, während die zeitgemäße Drohne hinterher fliegt und die Recherche im geschützten Raum dokumentiert. Januar 1933 war Hitler Reichskanzler und hatte starken Rückhalt in der deutschen Bevölkerung. Im Februar 1933 ging Heinrich Mann, der älteste Bruder von Thomas Mann, nach Nizza und auch dessen Sohn, Klaus Mann, fühlte sich als bekennender Homosexueller in Deutschland nicht mehr sicher. „Zu wissen, wohin man gehört“ war nicht mehr selbstverständlich. Käthe Kollwitz unterstützte im Februar 1933 noch einen „Dringlichen Appell“ zum Zusammenschluss der linken Parteien – vor den letzten „freien“ Wahlen im März 1933. Es unterzeichneten nur 17 Personen. Darunter: Heinrich Mann und Erich Kästner.

„Die Illusion einer Freiheit ist Unsinn“

Dafür wird mit Gottfried Benn ebenfalls 1933 eine Loyalitätsschrift zu Adolf Hitler kommen, der von nun an regelmäßige Artikel über die starke Stellung eines mächtigen Staates in der nationalen Wochenzeitschrift „Deutsche Zukunft“ veröffentlichen wird. Intensiv wird Gottfried Benn mit den heutigen Interviewpartnern im Film reflektiert: Ein guter Mensch ist nicht gleich ein guter Dichter, und umgekehrt? „Wie kann das Widersprüchliche in einer Person wohnen?“ Eines seiner Gedichte, „Tag, der den Sommer endet“ wird zitiert. Ein Abschiedsgedicht, obwohl das ganze Elend erst noch kommen wird. In den deutschen Familien wird Heinrich Heine mit Illustrationen von Max Liebermann lieber im Bücherregal in die zweite Reihe gerückt. Dem Zauberberg von Thomas Mann ergeht es genauso. Von 1933 bis 1945 gab es keine neuen guten Bücher in Deutschland, wird Heinrich Mann nachträglich erklären.

Während Frank Thiess einen Artikel zur „inneren Emigration“ schrieb, – wie nach außen ein Nazi-Bild aufrecht gehalten werden kann, aber im Inneren nicht, mit einem Abspalten und gleichzeitigem Einordnen in die Gesellschaft – hat sich bis 1945 vielleicht auf genau diese Weise Erich Kästner in Berlin „so durchgemogelt.“ Während ihm Stefan Zweig schrieb, er müsste „der glücklichste Mann in Deutschland“ sein, seine Freunde und Arbeitskollegen ins KZ kamen, versuchte er es mit Galgenhumor – und scheiterte kläglich, wie viele andere, die sich mit Alkohol und Drogen betäubten. Eine typisch deutsche Haltung: Auszuharren und abzuwarten? Probeaufnahmen aus dem Film „Fabian oder Der Gang vor die Hunde“ von Dominik Graf aus dem Jahr 2018 – nach dem Roman „Fabian. Die Geschichte eines Moralisten“ von Erich Kästner aus dem Jahr 1931. Ein Weg in die Melancholie hinein, mit Unausgesprochenen zwischen den Zeilen, über das noch Jahre später gesprochen werden muss, um es aufzuarbeiten.



FAZIT

Die politische Relevanz verdrängt ein wenig die Ästhetik in dem Film, – ist das ein Nachteil? Gefüllt mit Inhalten, die zum Nachdenken verleiten, sind die Zuschauenden solidarisch mit den Geistern der Autorinnen und Autoren, die nachts in die Bücherläden zurückkehren und um ihre Werke von einst herumschleichen. Was hätten sie heute geschrieben – und was schreiben wir? In der Fragerunde bei der Woche der Kritik erzählen Dominik Graf und Anatol Regnier, wie sie sich vor zehn Jahren trafen. Schon als der Filmemacher das Manuskript gelesen hatte, wollte er es unbedingt verfilmen, obwohl ihm viele davon abgeraten hatten: Es war ein Risiko-Projekt. „Jedes Schicksal ist eine Halbrundung“ und es gibt unzählige Kreise, die sich überlagern, mit den vielen Personen, die auf ganz verschiedene Art mit der Situation in Deutschland umgangen sind. Vieles fällt einfach „auf einen Platz“ und jede Person verlangt eine eigene Form. Ein Flickenteppich, der die leere Identität von Deutschland nicht mit gekürzten Aussagen stopft, sondern tatsächlich Raum für den Schmerz der Einzelnen lässt.


«Melting Ink» bzw. «Jeder schreibt für sich allein» lief als Deutschlandpremiere auf der Woche der Kritik 2023 sowie als Hessenpremiere auf dem Lichter Filmfest Frankfurt International 2023.


© Tina Waldeck 2023