––––––– Resilienzfilm –––––––



[Nijolé]

Sandro Bozzolo | Litauen 2019


In einem Atelier wird ein Feuer entzündet, dazu erklingt ein experimentelles Musikstück. Das Brandeisen wird von Nijolė Šivickas de Mockus auf ein Papier gedrückt: Es brennt die litauischen Worte für Frau ein. Um diese Frau, diese Mutter geht es, auch wenn sie den Fokus immer wieder gerne auf ihren Sohn zu verschieben versucht: Antanas Mockus Šivickas, der Philosoph und ehemalige Schuldirektor, lässt in alten Filmaufnahmen provokant die Hose runter und zeigt den Studierenden seinen Hintern. Ein blankes Zeichen des Friedens wird er später dazu sagen und dabei in die Kamera grinsen. Er kandidiert für das Amt des Bürgermeisters von Bogotá und führt seine provokante Wahlkampagne von dem Haus seiner Mutter aus, wo er zu diesem Zeitpunkt wohnt. Sie wird erfolgreich sein.


Filmbild aus Nijolé © Sandro Bozzolo | Litauen 2019
Filmbild aus Nijolé © Sandro Bozzolo | Litauen 2019

Nijolė geht durch die Räume, während Antanas einen Kassettenrekorder vorbereitet, um die geplante Radiosendung aus ihrem Atelier aufzuzeichnen. Nervös tippt ihre Hand auf den Stoff und ihr Blick weicht den bohrenden Fragen aus. Wozu das alles? Wozu noch einmal über ihr Leben nachdenken? Ihre Geschichte, die ist eigentlich furchtbar langweilig, erklärt sie und aufmerksam schauen ihre Augen dabei hin und her. Sie hat halt ein kleines Studio, da macht sie so ein paar Dinge mit Eisen und Keramik.

„Es sind halt so Kleinigkeiten“

Im Zweiten Weltkrieg hatte sie eine schwere Zeit in Deutschland. Bei Willy Baumeister studierte sie Kunst und um das Zeichnen von Menschen zu üben, ging sie in ein Tuberkulose-Krankenhaus, wo sie auf ihren zukünftigen Mann traf. Mit ihm ging sie eine Vereinbarung ein, die es ihr erlaubte, frei zu sein, und folgte ihm nach Kolumbien. Bei einem Flugzeugabsturz starb er und hinterließ sie als junge Witwe mit einem Sohn. Sie hat ihre kleine Familie versorgt, so gut sie konnte – indem sie weiter gearbeitet hat.

Es gab immer einen inneren Kampf in ihr, basierend auf widersprüchlichen Wünschen. Sie schaut aus dem Bild und hört den Worten von Antanas zu, der mehr als einmal das Reden für sie übernimmt. Eine unabhängige und starke Mutter ist etwas, das er vielen Menschen wünschen würde: Sie war immer die härteste Kritikerin von gesellschaftlichen Systemen, die er kannte – und eine gute Lehrmeisterin.  Der ehemalige Bürgermeister von Bogotá hat mittlerweile Parkinson und schwingt unruhig vor und zurück. Er holt ein altes Foto seiner Familie hervor: „Jedes Leben ist ein Puzzle, für das sich alle die Zeit nehmen sollten, um es zu lösen.“ Während der russischen Besetzung wurde Nijolés Großvater, ein Arzt, gefangengenommen und nach Serbien deportiert. Dort lebte er fast zehn Jahre, bevor er wieder zurückkommen konnte. Er sympathisierte mit den Nazis, während die Großmutter heimlich den Juden etwas Essbares zusteckte. Ohne ihre Mutter wären viele verloren gewesen.

FAZIT

Der sanfte Dokumentarfilm unterstützt in seiner Umsetzung die ausweichende Art von Nijolé, die sich wie eine Tarnung hinter ihrem Sohn versteckt, als Sicherheit, als Stütze, als Schutzschild, aber auch als Eminenz im Hintergrund. Viele kleine und fast unhörbare Hinweise auf die Zeit der „entarteten Kunst“ werden gegeben, die sie in Deutschland noch miterlebt hat und vielleicht auch mit ein Faktum war – als eine Vorsichtsmaßnahme der Selbsterhaltung –, immer bedacht in der freien Sprache zu sein. So wird es zu einem stillen Vermächtnis der Künstlerin, der Frau und Mutter, die sichtbar während der Aufnahmen altert. Die durch und mit ihrer Kunst die eigene Geschichte verarbeitet hat. In ihrem Studio schweben zwei Steine in der Luft, fest aneinander gebunden, die eine Form trägt die andere. Ihre Werke sprechen für sie.


«Nijolé» lief auf dem goEast – Festival des mittel- und osteuropäischen Films 2025 im Symposium “Omas, Babas, Babushkas – Gender & Altern im Europäischen Kino”.


© Tina Waldeck 2025