[Sterben]

Matthias Glasner | Deutschland 2024


Ein Kleinkind im Eltern-Format: Du musst machen, was dein Herz dir sagt. Du musst auf dein Herz hören. Du musst. Ein spielerischer Anfang, der sofort gebrochen wird. Die Mutter spricht ihrem Sohn auf den Anrufbeantworter: Sie sitzt in der Scheiße – wortwörtlich. Ihr Mann hat sich nur ein Hemd über den nackten Körper geworfen – so geht er gerne spazieren, nicht mehr wissend, warum, – und so langsam kann das mit den beiden nicht mehr so weitergehen, findet die Nachbarin.

Das innere Absterben

Tom ruft zurück: Er hat mit Liv gerade ein Kind bekommen. Wie schade, dass es nicht seins ist, erklärt die Mutter mit verkniffenem Mund. Sie scheucht ihren Mann von dem Lenkrad des Wagens fort: Er soll doch nicht mehr fahren. Also fährt sie zum Einkaufen, aber Gerd muss sie steuern: Sie sieht doch nichts mehr. „Fahrrad von links, rechts ein Auto, Kind, Kind, Kind!“ Ein Mann von der Krankenkasse besucht die beiden: Sie könnten wirklich Hilfe im Alltag gebrauchen. Eigentlich wollte Tochter Ellen zur Unterstützung vorbeikommen, anstatt dessen ist erneut die Nachbarin da. Doch alle, die einen guten Eindruck machen, können auch für sich selbst sorgen, findet der Fremde und schaut kaum von seinem Papier hoch. In der Nacht ruft Lissy um Hilfe und die Nachbarin den Krankenwagen: Herzinfarkt. Gerd kommt zur Kurzzeitpflege ins Heim – und wird dort bleiben.


Filmbild aus Sterben ©Matthias Glasner | Deutschland 2024
Filmbild aus Sterben ©Matthias Glasner | Deutschland 2024

FAZIT

Drei Stunden mit den sozialen Nichtbeziehungen einer Familie: In episodischen, miteinander verbundenen Kapiteln wandert der Fokus von den Eltern zu den beiden Kindern Tom (Dirigent) und Ellen (Zahnarzthelferin) und erklärt auch deren Absenz. Dabei steigern sich die emotionalen Zustände bei allen immer weiter ins Extreme, solange bis das Unterdrückte heraus (oder zusammen) bricht: Sei es als Flucht in eine vollständige Verdrängung, als Flucht in Alkohol oder als Flucht in die Kunst.

Diese Ersatzbefriedigungen ergeben eine Situationskomik, die sich aus der Tragik speist, Gefühle nicht auszudrücken oder gar Probleme ansprechen zu können. Dabei verleihen alle Schauspielenden ihren Figuren enorm viel Charakter: Zunächst Lissy (Corinna Harfouch) und Gerd (Hans-Uwe Bauer) als Orientierungspunkte des Leerstandes in ihrer jeweiligen Auflösung realitätsnah (ein)gefangen. Doch auch die Geschichte um Tom (Lars Eidinger) – und dem Kind, das er einst mit einer Frau gewollt hat, dem Kind, das diese Frau nun hat, aber nicht seines ist sowie dem Kind, das von einer anderen Frau seins sein wird, aber (wie er) kein Wunschkind ist – bekommt im Rahmen der Familienthematik einen ganz besonderen zeitgenössischen Glanz. 

Aus der Familie ausbrechen möchte auch Bernard (Ronald Zehrfeld), der sich als verheirateter Mann mit Ellen (Lilith Stangenberg) einlässt: Die exzessive Liebesszene der beiden bekam bei der Weltpremiere im Berliner Berlinale Palast gesondert Applaus und verdeutlicht auf einem ganz anderen Level eine schmerzhafte Gefühlslage, die sich kurzzeitig löst, alles andere vergessen macht und am Ende bleibende Schäden sowie Narben zurücklässt. Wie wird mit den Schwierigkeiten im Leben – bis hin zum Sterben – umgegangen? Ein Film zum exzessiven Nachdenken über den eigenen emotionalen Ausdruck innerhalb diverser Familienkonstrukte, – oder zum verständnisvolleren Belächeln derselben. Dabei ist aber auch eine ganz klare Triggerwarnung auszusprechen, da das Thema Selbstmord genauso exzessiv beleuchtet wird!




«Sterben» lief bei den 74. Internationalen Filmfestspielen Berlin 2024 im Wettbewerb und wurde dort mit den Silbernen Bären für das Beste Drehbuch ausgezeichnet.


© Tina Waldeck 2024